Welche Rolle spielt der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers für die anwendbare Erbrechtsordnung?
Der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers bestimmt nach der EU-Erbrechtsverordnung, welches nationale Erbrecht bei einem Erbfall gilt. Dadurch wird das Erbrecht des Staates angewendet, in dem die verstorbene Person ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt hatte, unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Um Unsicherheiten zu vermeiden, können Sie durch eine Rechtswahl im Testament festlegen, dass das Recht Ihrer Staatsangehörigkeit gelten soll.
Der gewöhnliche Aufenthalt einer Person ist ein entscheidender Faktor, der seit 2015 maßgeblich bestimmt, welches nationale Erbrecht bei grenzüberschreitenden Erbfällen zur Anwendung kommt. Diese Regelung betrifft viele Menschen in Deutschland: Personen mit einer Ferienimmobilie im Ausland, Ruheständler:innen mit Wohnsitz in wärmeren Ländern oder Familien, deren Angehörige in verschiedenen Staaten leben. Der folgende Artikel erklärt Ihnen verständlich, welche Bedeutung der gewöhnliche Aufenthalt im europäischen Erbrecht hat und was Sie darüber wissen sollten.
Die EU-Erbrechtsverordnung: Neues Grundprinzip seit 2015
Seit dem 17. August 2015 gilt in fast allen EU-Mitgliedstaaten (außer Irland und Dänemark) die Europäische Erbrechtsverordnung, auch bekannt als “Brüssel IV” oder “EuErbVO”[8]. Diese Verordnung hat einen grundlegenden Wandel im internationalen Erbrecht gebracht:
Vor 2015: Es galt überwiegend das Staatsangehörigkeitsprinzip. Das bedeutete, dass auf deutsche Staatsangehörige im Erbfall deutsches Erbrecht angewendet wurde - unabhängig davon, wo sie lebten[3].
Seit 2015: Es gilt das Aufenthaltsprinzip. Das Erbrecht des Staates, in dem der Erblasser (die verstorbene Person) zum Zeitpunkt des Todes seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte, kommt zur Anwendung[2][3].
Diese Änderung hat weitreichende Folgen: Wenn Sie als deutsche:r Staatsbürger:in beispielsweise Ihren Lebensmittelpunkt nach Spanien verlegt haben, gilt für Ihren Nachlass spanisches Erbrecht - auch wenn Sie die deutsche Staatsangehörigkeit behalten haben und ein Haus in Deutschland besitzen[8].
Was bedeutet "gewöhnlicher Aufenthalt"?
Der Begriff “gewöhnlicher Aufenthalt” ist in der EU-Erbrechtsverordnung nicht genau definiert[1][2]. Dies ist bewusst so gewählt, um eine flexible Anwendung zu ermöglichen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und nationaler Gerichte hat eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt dort, “wo sie sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass sie an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt”[4].
Für die praktische Bestimmung sind folgende Anhaltspunkte wichtig:
- Als Faustregel gilt: Ein zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten wird in der Regel als nicht nur vorübergehend angesehen[4].
- Eine Person kann nur einen gewöhnlichen Aufenthalt haben[1].
- Es geht um den tatsächlichen Lebensmittelpunkt, nicht um formale Kriterien wie den melderechtlichen Wohnsitz[1][2].
Faktoren zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts
Um den gewöhnlichen Aufenthalt zu ermitteln, nehmen Gerichte eine Gesamtbeurteilung aller Lebensumstände vor. Dabei werden insbesondere folgende Faktoren berücksichtigt[1][2]:
- Dauer und Regelmäßigkeit des Aufenthalts in dem betreffenden Staat
- Lebensmittelpunkt in familiärer und sozialer Hinsicht (Wo leben Partner:in, Kinder, Freund:innen?)
- Physische Präsenz am Ort
- Soziale und kulturelle Integration (Sprachkenntnisse, Teilnahme am gesellschaftlichen Leben)
- Lage der wichtigsten Vermögensgegenstände
- Aufenthaltswille (Hat die Person beabsichtigt, an diesem Ort zu bleiben?)
Besondere Fallkonstellationen
Es gibt Situationen, in denen der gewöhnliche Aufenthalt nicht leicht zu bestimmen ist:
Beispiel: Pflegebedürftigkeit im Ausland
Wenn jemand gegen seinen Willen oder aufgrund mangelnder Geschäftsfähigkeit in einem ausländischen Pflegeheim untergebracht wurde, ändert sich der gewöhnliche Aufenthalt nicht automatisch. In einem Fall entschied das Gericht, dass der gewöhnliche Aufenthalt eines demenzkranken deutschen Staatsangehörigen, der in einem polnischen Pflegeheim verstarb, weiterhin in Deutschland lag[7].
Beispiel: Pendeln zwischen mehreren Staaten
Besitzen Sie Wohnsitze in verschiedenen Ländern (etwa eine Wohnung in Deutschland und ein Ferienhaus in Spanien, zwischen denen Sie regelmäßig wechseln), kommt es darauf an, wo Ihr Lebensmittelpunkt liegt. Entscheidend sind dabei die soziale Integration und die familiären Bindungen[1][2].
Auswirkungen auf die Anwendung des Erbrechts
Die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts hat folgende zentrale Konsequenzen:
Das Prinzip der Nachlasseinheit
Die EU-Erbrechtsverordnung etabliert das Prinzip “ein Erbfall, ein Gericht, ein Recht, ein Europäisches Nachlasszeugnis”[8]. Das bedeutet:
- Der gesamte Nachlass unterliegt einem einheitlichen Erbrecht, unabhängig davon, in welchen Ländern sich das Vermögen befindet[3][6].
- Es findet keine Nachlassspaltung mehr statt, bei der etwa Immobilien nach dem Recht des Belegenheitsstaates vererbt würden[6].
Erhebliche Unterschiede zwischen nationalen Erbrechtsordnungen
Die Anwendung einer anderen Erbrechtsordnung kann weitreichende Folgen haben, da sich die nationalen Regelungen teilweise deutlich unterscheiden. Dies kann sich auswirken auf[3]:
- Die gesetzliche Erbfolge
- Erbquoten
- Pflichtteilsansprüche (in manchen Ländern sind diese höher oder niedriger als in Deutschland)
- Gültigkeit von Schenkungen
- Nießbrauchsansprüche
Beispiel: Das in Deutschland verbreitete “Berliner Testament”, bei dem sich Ehepartner:innen gegenseitig als Alleinerben einsetzen, ist in manchen EU-Staaten unbekannt und könnte dort als unwirksam betrachtet werden[3].
Ihre Gestaltungsmöglichkeit: Die Rechtswahl
Die EU-Erbrechtsverordnung eröffnet Ihnen eine wichtige Gestaltungsmöglichkeit, um Rechtssicherheit zu schaffen: Sie können in einer Verfügung von Todes wegen (Testament oder Erbvertrag) das Recht des Staates wählen, dessen Staatsangehörigkeit Sie besitzen[3][8].
Beispiel: Sie sind deutsche:r Staatsangehörige:r und leben dauerhaft in Spanien. Ohne Rechtswahl würde spanisches Erbrecht gelten. Durch eine ausdrückliche Rechtswahl in Ihrem Testament können Sie bestimmen, dass stattdessen deutsches Erbrecht angewendet werden soll.
Diese Rechtswahl hat folgende Vorteile:
- Sie können sicherstellen, dass die vertrauten deutschen Vorschriften angewendet werden.
- Ihre Nachlassplanung wird rechtssicherer und berechenbarer.
- Die Gültigkeit von Instrumenten wie dem “Berliner Testament” wird gewährleistet.
Praktische Tipps für Ihre Nachlassplanung
Aufgrund der Komplexität des internationalen Erbrechts sollten Sie folgende Punkte beachten:
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Prüfen Sie Ihren gewöhnlichen Aufenthalt - Reflektieren Sie selbst, wo Ihr tatsächlicher Lebensmittelpunkt liegt. Bedenken Sie, dass formale Kriterien wie Meldebescheinigungen nicht ausschlaggebend sind.
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Treffen Sie eine Rechtswahl - Wenn Sie im Ausland leben oder regelmäßig Zeit im Ausland verbringen, sollten Sie eine ausdrückliche Rechtswahl in Ihrem Testament treffen.
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Lassen Sie bestehende Testamente überprüfen - Falls Sie bereits ein Testament haben und Ihren gewöhnlichen Aufenthalt ins Ausland verlegt haben, sollten Sie prüfen lassen, ob Ihre letztwilligen Verfügungen auch nach dem möglicherweise anwendbaren ausländischen Recht wirksam sind.
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Denken Sie an die internationalen Zuständigkeiten - Gerichte des Staates, in dem der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte, sind grundsätzlich für die Abwicklung des Erbfalls zuständig[2].
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Holen Sie fachkundigen Rat ein - Bei Immobilienbesitz im Ausland, regelmäßigen Auslandsaufenthalten oder geplanter Verlagerung des Lebensmittelpunkts ins Ausland ist eine Beratung durch Fachleute für internationales Erbrecht sinnvoll[3].
Fazit: Warum der gewöhnliche Aufenthalt so bedeutsam ist
Der gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers bestimmt maßgeblich, welches nationale Erbrecht auf den gesamten Nachlass angewendet wird - vom Bankkonto bis zur Immobilie. Diese Regelung schafft Einheitlichkeit bei grenzüberschreitenden Erbfällen, stellt aber auch eine Herausforderung für die Nachlassplanung dar.
Durch eine ausdrückliche Rechtswahl können Sie jedoch Einfluss nehmen und für mehr Rechtssicherheit sorgen. Innerhalb der EU werden jährlich rund 500.000 grenzüberschreitende Erbfälle gezählt[3] - mit steigender Tendenz. Wenn Sie internationale Bezüge haben, lohnt es sich daher, sich frühzeitig mit diesem Thema zu befassen und vorausschauend zu planen.