Kann die gesetzliche Erbfolge durch Schenkungen zu Lebzeiten umgangen werden?

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Zusammenfassung

Schenkungen zu Lebzeiten können die gesetzliche Erbfolge beeinflussen und Pflichtteils­ansprüche verringern, jedoch schützt der Pflicht­teils­ergänzungs­anspruch nahe Angehörige vor einer vollständigen Benachteiligung. Schenkungen innerhalb der letzten zehn Jahre vor dem Tod werden schrittweise angerechnet, wobei Ausnahmen wie Schenkungen an Ehepartner:innen oder mit Vorbehalten (z. B. Nießbrauch) gelten. Eine frühzeitige und gut geplante Nachlassgestaltung sowie rechtliche Beratung sind entscheidend, um Konflikte zu vermeiden und den eigenen Willen umzusetzen.

Der Gedanke, den eigenen Nachlass frühzeitig und selbst­bestimmt zu regeln, beschäftigt viele Menschen. Eine Möglichkeit, die dabei häufig in Betracht gezogen wird, ist die Über­tragung von Vermögens­werten durch Schenkungen bereits zu Lebzeiten. Doch welche Aus­wirkungen hat dies auf die gesetzliche Erbfolge, den Pflicht­teil und die Erb­quoten? Dieser Artikel bietet Ihnen einen Über­blick über die recht­lichen Rahmen­bedingungen und praktische Hinweise.

Grundlagen: Gesetzliche Erbfolge und Pflicht­teils­recht

Bevor wir uns mit den Möglichkeiten von Schenkungen befassen, ist es wichtig, die grund­legenden Konzepte des Erb­rechts zu verstehen.

Was ist die gesetzliche Erbfolge?

Die gesetzliche Erbfolge tritt ein, wenn der Ver­storbene weder ein Testament noch einen Erb­vertrag hinter­lassen hat. In diesem Fall erben die nächsten Angehörigen nach gesetzlich fest­gelegten Quoten. Dazu gehören vor allem:

  • Ehe­gatt:innen oder eingetragene Lebens­partner:innen
  • Kinder (und bei deren Vor­versterben die Enkel­kinder)
  • Eltern (falls keine Kinder vorhanden sind)

Was ist der Pflicht­teil?

Der Pflicht­teil ist eine gesetzlich garantierte Mindest­beteiligung am Nachlass, die bestimmten nahen Angehörigen auch dann zusteht, wenn sie durch Testament oder Erb­vertrag enterbt wurden. Er beträgt die Hälfte des gesetzlichen Erbteils und steht folgenden Personen zu:

  • Ehe­gatt:innen oder eingetragenen Lebens­partner:innen
  • Kindern (und bei deren Vor­versterben den Enkel­kindern)
  • Eltern (nur wenn keine Kinder vorhanden sind)[2]

Wichtig: Im Gegensatz zum Erb­teil ist der Pflicht­teil lediglich ein Geld­zahlungs­anspruch. Pflicht­teils­berechtigte werden nicht Erben und haben keinen Anspruch auf bestimmte Nachlass­gegenstände.[4]

Schenkungen zu Lebzeiten: Möglichkeiten und Grenzen

Schenkungen zu Lebzeiten können tatsächlich ein Mittel sein, um die gesetzliche Erbfolge teilweise zu umgehen und die eigenen Vorstellungen zur Vermögens­verteilung umzusetzen. Allerdings gibt es wichtige recht­liche Grenzen, die beachtet werden müssen.

Grundsätzliche Möglich­keiten von Schenkungen

Durch Schenkungen können Sie:

  • Vermögens­werte gezielt an bestimmte Personen übertragen
  • Steuerfreibeträge nutzen, die alle zehn Jahre neu zur Verfügung stehen[3]
  • Ihr Vermögen verringern und damit auch potenzielle Pflicht­teils­ansprüche reduzieren

Der Pflicht­teils­ergänzungs­anspruch als Schutz­mechanismus

Der Gesetzgeber hat jedoch einen Schutz­mechanismus eingebaut: den Pflicht­teils­ergänzungs­anspruch. Dieser verhindert, dass Pflicht­teils­ansprüche durch kurz vor dem Tod getätigte Schenkungen komplett ausgehöhlt werden können.[1]

Der Pflicht­teils­ergänzungs­anspruch bedeutet konkret:

  • Schenkungen der letzten 10 Jahre vor dem Erb­fall werden bei der Berechnung des Pflicht­teils berücksichtigt
  • Für jedes Jahr, das zwischen Schenkung und Erb­fall liegt, werden 10% vom Wert der Schenkung abgezogen
  • Nach 10 Jahren wird die Schenkung nicht mehr berücksichtigt[1][3]

Das "Abschmelzungs­modell": Wie Schenkungen mit der Zeit an Relevanz verlieren

Das sogenannte Abschmelzungs­modell beschreibt, wie der anzurechnende Wert einer Schenkung mit der Zeit abnimmt:

  • Erfolgt die Schenkung innerhalb eines Jahres vor dem Tod: 100% Anrechnung[6]
  • Nach einem Jahr: 90% Anrechnung
  • Nach fünf Jahren: 50% Anrechnung
  • Nach zehn Jahren: 0% Anrechnung (keine Berücksichtigung mehr)[3]

Beispiel: Ein Vater hat zwei Kinder - Tochter und Sohn. In seinem Testament setzt er die Tochter als Allein­erbin ein und enterbt den Sohn. Der Sohn hat dennoch einen Pflicht­teils­anspruch in Höhe von einem Viertel des Nachlasses. Wenn der Vater nun fünf Jahre vor seinem Tod ein Grundstück an die Tochter verschenkt, wird bei der Berechnung des Pflicht­teils des Sohnes nur noch die Hälfte des Grundstücks­wertes dem Nachlass hinzugerechnet.[3]

Wichtige Ausnahmen beim Abschmelzungs­modell

Es gibt bedeutende Ausnahmen, bei denen die 10-Jahres-Regel nicht greift:

1. Schenkungen an Ehe­partner:innen

Bei Schenkungen an Ehe­partner:innen gilt das Abschmelzungs­modell nicht. Der volle Wert der Schenkung wird unabhängig vom Zeitpunkt beim Pflicht­teils­ergänzungs­anspruch berücksichtigt - selbst wenn die Schenkung bereits vor mehr als 10 Jahren erfolgte.[3]

2. Schenkungen mit Vorbehalten

Auch bei Schenkungen, bei denen sich der:die Schenkende bestimmte Nutzungs­rechte vorbehält, greift die 10-Jahres-Regel nicht. Dazu gehören:

  • Schenkungen mit Nießbrauchs­vorbehalt
  • Schenkungen mit Wohnrechts­vorbehalt[3]

Diese Schenkungen werden bei der Berechnung des Pflicht­teils­ergänzungs­anspruchs unabhängig vom Zeitpunkt vollständig berücksichtigt.

Strategien zur Pflicht­teils­verringerung

Es gibt verschiedene Strategien, wie Sie durch Schenkungen die Pflicht­teils­ansprüche legal verringern können:

Frühzeitige Schenkungen planen

Die wirksamste Strategie ist die frühzeitige Planung von Schenkungen, idealerweise mehr als 10 Jahre vor dem möglichen Erb­fall. So können Sie:

  • Vermögen rechtssicher übertragen
  • Die 10-Jahres-Frist ausnutzen
  • Steuerfreibeträge mehrfach in Anspruch nehmen[3]

Anrechnung auf den Pflicht­teil vereinbaren

Bei Schenkungen an potenzielle Pflicht­teils­berechtigte können Sie eine Anrechnung auf den späteren Pflicht­teil vereinbaren. Dies kann helfen, eine gerechte Verteilung des Vermögens zu gewährleisten.

Änderung des Güter­standes

Eine weitere Möglichkeit zur Beeinflussung der Pflicht­teils­höhe ist die Änderung des Güter­standes in der Ehe. Je nach Güter­stand können sich unterschiedliche Pflicht­teils­quoten ergeben.

Beispiel: Bei einer Ehe mit zwei Kindern hat die Ehefrau im Fall der Zugewinn­gemeinschaft bei Tod des Mannes einen Pflicht­teils­anspruch von 12,5% plus 25% Zugewinn­ausgleich. Bei Güter­trennung beträgt der Pflicht­teil nur ein Sechstel (16,6%) des Nachlasses.[3]

Praktische Beispiele zur Veranschaulichung

Beispiel 1: Schenkung mit Abschmelzung

Familie Müller hat zwei Kinder. Die Eltern möchten die Tochter besonders bedenken und schenken ihr acht Jahre vor dem Tod des Vaters ein Grundstück im Wert von 100.000 Euro. Der Sohn ist im Testament enterbt.

Bei der Berechnung des Pflicht­teils­ergänzungs­anspruchs werden nur noch 20% des Grundstücks­wertes (20.000 Euro) berücksichtigt, da bereits acht Jahre seit der Schenkung vergangen sind. Dies verringert den Pflicht­teils­anspruch des Sohnes deutlich.

Beispiel 2: Schenkung an den Ehe­partner

Herr Weber schenkt seiner Frau zwölf Jahre vor seinem Tod eine Immobilie. In seinem Testament setzt er seinen Sohn aus erster Ehe als Erben ein.

Trotz der vergangenen Zeit wird die Immobilie bei der Berechnung des Pflicht­teils der Ehefrau vollständig berücksichtigt, da bei Schenkungen zwischen Ehe­leuten keine Abschmelzung stattfindet.

Rechtliche Grenzen beachten

Bei der Gestaltung Ihres Nachlasses durch Schenkungen sollten Sie beachten:

  • Verjährung: Pflicht­teils­ansprüche verjähren in einer Frist von drei Jahren ab Kenntnis vom Erb­fall[5]
  • Pflicht­teils­entziehung: Nur unter sehr engen Voraussetzungen kann der Pflicht­teil entzogen werden
  • Auskunfts­pflicht: Erben müssen Pflicht­teils­berechtigten Auskunft über den Nachlass geben
  • Steuerliche Aspekte: Berücksichtigen Sie die Freibeträge bei der Schenkungssteuer

Empfehlungen für Ihre Nachlass­planung

  1. Beginnen Sie frühzeitig mit der Planung Ihres Nachlasses
  2. Wägen Sie ab zwischen Schenkungen zu Lebzeiten und testamentarischen Regelungen
  3. Dokumentieren Sie Schenkungen sorgfältig (Datum, Wert, Empfänger:in)
  4. Holen Sie fachkundigen Rat ein, insbesondere bei komplexen Vermögens­verhältnissen
  5. Überprüfen Sie regelmäßig Ihre Nachlass­planung, besonders nach wichtigen Lebens­ereignissen wie Heirat, Geburt von Kindern oder Scheidung

Rechtliche Beratung ist sinnvoll

Die Gestaltung des Nachlasses und die Planung von Schenkungen sind komplexe Themen mit weitreichenden Folgen. Eine individuelle rechtliche Beratung kann Ihnen helfen, die für Ihre persönliche Situation passende Lösung zu finden und rechtliche Fallstricke zu vermeiden.

Denken Sie daran: Eine wohlüberlegte Nachlass­planung kann nicht nur dazu beitragen, Ihr Vermögen nach Ihren Wünschen zu verteilen, sondern auch Konflikten unter Ihren Angehörigen vorzubeugen.