Wie unterscheiden sich die Ansichten von verschiedenen islamischen Schulen zur Patientenverfügung?

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Zusammenfassung

Die islamischen Rechtsschulen unterscheiden sich in ihrer Haltung zu Patienten­verfügungen, insbesondere bei Themen wie Therapie­begrenzung, künstlicher Ernährung und Schmerz­behandlung. Während die Hanafi-Schule pragmatischere Ansätze erlaubt, sind die Schafi’i- und Hanbali-Schulen restriktiver, oft mit der Betonung auf göttlicher Vorherbestimmung. Für eine islamkonforme Patienten­verfügung sollten Betroffene ihre Glaubensrichtung berücksichtigen, religiöse Beratung einholen und klare Wünsche schriftlich festhalten.

In einer multikulturellen Gesellschaft wie Deutschland stehen viele muslimische Gläubige vor der Frage, wie sie ihre medizinische Versorgung im Ernstfall selbstbestimmt regeln können. Eine Patienten­verfügung ist hierfür ein zentrales Instrument - doch ihre Ausgestaltung hängt stark von religiösen Überzeugungen ab. Die vier sunnitischen Rechtsschulen (Madhhab) sowie schiitische Traditionen bewerten bestimmte Aspekte der Patientenautonomie unterschiedlich. Dieser Artikel gibt Ihnen einen Überblick, was Sie bei der Erstellung einer islamkonformen Patienten­verfügung beachten sollten.

Warum religiöse Grundlagen wichtig sind

Im Islam gelten Gesundheit und Leben als Gottesgaben, über die Menschen nicht uneingeschränkt verfügen dürfen[1][8]. Gleichzeitig betonen viele Gelehrte die Verantwortung des Einzelnen, im Rahmen der göttlichen Vorhersehung Entscheidungen zu treffen[5][13]. Diese Spannung spiegelt sich in den Diskussionen über lebensverlängernde Maßnahmen, Schmerztherapien oder künstliche Ernährung wider.

Eine Patienten­verfügung kann hier Klarheit schaffen - vorausgesetzt, sie respektiert die ethischen Leitlinien der jeweiligen Rechtsschule. Die folgenden Abschnitte zeigen, worauf Sie je nach religiöser Ausrichtung achten müssen.

Hanafi-Schule: Betonung der individuellen Vorausplanung

Als größte Rechtsschule unter deutsch­türkischen Muslim:innen vertritt die Hanafi-Tradition eine vergleichsweise pragmatische Haltung:

  • Lebenserhaltung: Künstliche Beatmung oder Ernährung sind grundsätzlich erlaubt, sofern Heilungschancen bestehen[8][15].
  • Therapiebegrenzung: Bei aussichtsloser Prognose dürfen Maßnahmen eingestellt werden, sofern Familienangehörige zustimmen[5][16].
  • Schmerzbehandlung: Opioid­gestützte Palliativmedizin ist akzeptiert, selbst wenn sie das Leben verkürzt[19].

Praxistipp: Hanafi-Gelehrte empfehlen, in der Patienten­verfügung konkrete Krankheitsszenarien zu benennen (z.B. „bei irreversibler Gehirnschädigung“) und einen Vertrauens­personenkreis festzulegen[3][7].

Maliki-Schule: Flexibilität im Umgang mit medizinischen Prognosen

Die vor allem in Nordafrika verbreitete Maliki-Schule legt größeren Wert auf kollektive Entscheidungsprozesse:

  • Familienkonsens: Jede Therapie­einschränkung erfordert die ausdrückliche Zustimmung aller erwachsenen Familienmitglieder[12][15].
  • Passive Sterbehilfe: Der Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen ist unter klaren Bedingungen zulässig - etwa bei Ressourcenknappheit oder extremen Leidenszuständen[8][12].
  • Sondenernährung: Anders als in anderen Schulen gilt die künstliche Ernährung oft als religiöse Pflicht[5][7].

Achtung: Malikitische Gutachten fordern meist eine zweite ärztliche Meinung, bevor lebenserhaltende Geräte abgeschaltet werden dürfen[15][16].

Schafi’i-Schule: Strenge Regeln für die Therapieplanung

Die Schafi’i-Tradition, verbreitet unter Muslim:innen aus Südostasien und Teilen des Nahen Ostens, nimmt eine restriktivere Haltung ein:

  • Behandlungsabbruch: Nur zulässig, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht und die Maßnahmen keinen Nutzen mehr bringen[8][16].
  • Patienten­verfügungen müssen von einem islamischen Rechts­gutachter (Mufti) geprüft werden, um Gültigkeit zu erlangen[5][13].
  • Schmerzmittel: Hochdosierte Opioide sind problematisch, da sie den Sterbeprozess beschleunigen könnten[19].

Empfehlung: Schafi’i-Anhänger:innen sollten ihre Verfügung mit einem Imam oder einer islamischen Beratungs­stelle abstimmen, um Konflikte zu vermeiden[7][9].

Hanbali-Schule und Salafiyya: Schriftliche Festlegungen als Herausforderung

Die konservative Hanbali-Schule (Grundlage des saudischen Wahhabismus) sowie salafistische Strömungen stehen Patienten­verfügungen kritisch gegenüber:

  • Vorherbestimmung: Da der Todeszeitpunkt als gottgegeben gilt, lehnen viele Gelehrte jede Form der Therapie­begrenzung ab[1][15].
  • Ausnahmen: Nur bei nachgewiesener medizinischer Aussichtslosigkeit dürfen Beatmungsgeräte abgeschaltet werden[16][19].
  • Dokumentation: Mündliche Anweisungen haben Vorrang vor schriftlichen Verfügungen, um „starre Regelungen“ zu vermeiden[4][13].

Hinweis: In Deutschland ist eine rein mündliche Willensäußerung rechtlich nicht bindend. Betroffene sollten daher zumindest eine Vorsorge­vollmacht mit Vertrauenspersonen erstellen[3].

Rechtliche Rahmenbedingungen in Deutschland

Unabhängig von der religiösen Schule gilt in Deutschland:

  1. Verbindlichkeit: Eine Patienten­verfügung ist gemäß § 1827 BGB rechtsgültig, wenn sie konkrete Behandlungswünsche benennt[3][6].
  2. Formvorschriften: Eigenhändige Unterschrift genügt - eine notarielle Beglaubigung ist nicht nötig[3][10].
  3. Kultur­sensibilität: Ärzt:innen sind verpflichtet, religiöse Vorstellungen bei der Behandlung zu berücksichtigen[18][19].

Praxis­beispiel: Fatima Y. (58, hanafitische Muslima) formuliert in ihrer Verfügung:
„Ich wünsche keine Wieder­belebung, wenn keine Aussicht auf ein Leben ohne bleibende Hirnschäden besteht. Schmerz­ und Symptomlinderung haben Vorrang, auch wenn dies mein Leben verkürzt.“
Ihre Tochter wird als Bevollmächtigte benannt, um im Zweifelsfall mit dem behandelnden Team zu vermitteln.

Fünf Schritte zur islamkonformen Patienten­verfügung

  1. Klärung der Rechtsschule: Fragen Sie in Ihrer Gemeinde nach, welcher Tradition Ihre Glaubens­praxis folgt.
  2. Themenpriorisierung: Legen Sie fest, ob Sie künstliche Ernährung, Beatmung oder Reanimation regeln möchten.
  3. Religiöse Beratung: Besprechen Sie Entwürfe mit Imam:innen oder islamischen Seelsorger:innen[9][13].
  4. Formulierungshilfen: Nutzen Sie Mustertexte von islamischen Verbänden wie dem Zentralrat der Muslime[14][17].
  5. Regelmäßige Aktualisierung: Überprüfen Sie die Verfügung alle 2-3 Jahre auf Übereinstimmung mit Ihrer aktuellen Überzeugung.

Wenn Angehörige unterschiedlicher Meinung sind

Familienkonflikte entstehen oft, wenn jüngere Generationen liberaler eingestellt sind als ältere. In solchen Fällen helfen:

  • Mediations­angebote: Islamische Wohlfahrtsverbände wie Inssan vermitteln bei Generationenkonflikten.
  • Klinik­seelsorge: Viele Krankenhäuser bieten multireligiöse Gesprächs­angebote[18][19].
  • Betreuungs­gericht: Als letzte Instanz kann das Gericht den mutmaßlichen Willen ermitteln lassen[6][10].

Ihre Patienten­verfügung ist Ausdruck Ihres Glaubens und Ihres Selbstbestimmungs­rechts. Indem Sie sich mit den Positionen Ihrer Rechtsschule auseinandersetzen, schaffen Sie Klarheit - für sich selbst und alle, die später Entscheidungen treffen müssen. Zögern Sie nicht, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen, um Ihren Willen rechtssicher und im Einklang mit Ihren Überzeugungen zu formulieren.