Wie steht der Islam zur Patientenverfügung?
Im Islam ist eine Patientenverfügung grundsätzlich erlaubt, sofern sie religiöse Grundsätze wie den Schutz des Lebens und die Akzeptanz des natürlichen Todes respektiert. Maßnahmen wie der Verzicht auf lebensverlängernde Therapien bei aussichtsloser Prognose sind zulässig, aktive Sterbehilfe oder Suizidassistenz hingegen verboten. Muslim:innen in Deutschland sollten ihre Verfügung sorgfältig formulieren, theologische Beratung einholen und sicherstellen, dass ihre Wünsche mit den islamischen Prinzipien und dem deutschen Recht übereinstimmen.
In einer Zeit, in der medizinische Möglichkeiten Grenzen überschreiten können, gewinnt die Frage nach selbstbestimmter Vorsorge zunehmend an Bedeutung. Für Muslim:innen in Deutschland stellt sich dabei die Herausforderung, persönliche Entscheidungen mit religiösen Grundsätzen in Einklang zu bringen. Dieser Artikel zeigt auf, wie der Islam zur Patientenverfügung steht, welche theologischen Überlegungen relevant sind und wie Sie Ihre Handlungssicherheit in ethischen Dilemmata stärken können.
Islamische Grundlagen der Lebensund Gesundheitsfürsorge
Der Islam betrachtet das Leben als Amanah - ein anvertrautes Gut Gottes[2][7]. Jeder Mensch trägt Verantwortung für seinen Körper, darf ihn weder mutwillig schädigen noch Heilungschancen ungeprüft ablehnen. Gleichzeitig gilt der Tod als natürlicher Übergang in die ewige Existenz, dessen Zeitpunkt allein Gott bestimmt[2][8].
Diese doppelte Perspektive prägt alle medizinethischen Debatten:
- Therapiepflicht: Viele Gelehrte betonen die Pflicht, lebenserhaltende Maßnahmen zu nutzen, solange realistische Heilungsaussichten bestehen[4][7].
- Behandlungsverzicht: Bei aussichtslosen Prognosen gilt der Verzicht auf übermäßige Leiden verursachende Eingriffe als zulässig[7][14].
Ein zentraler Konflikt entsteht zwischen göttlicher Vorherbestimmung (Qadar) und menschlicher Entscheidungsfreiheit. Moderne Theolog:innen argumentieren, dass Gottes Plan die rationalen Wahlmöglichkeiten des Menschen bereits einschließt[2][14].
Die Patientenverfügung im islamischen Recht
Entgegen verbreiteter Vorurteile existiert kein pauschales Verbot von Patientenverfügungen im Islam[1][6]. Entscheidend ist die konkrete Ausgestaltung:
Zulässige Inhalte
- Schmerztherapie: Auch bei lebensverkürzender Wirkung erlaubt[8][9]
- Künstliche Ernährung: Differenzierte Bewertung je nach Krankheitsstadium[1][11]
- Reanimationsverzicht: Bei terminalen Erkrankungen akzeptabel[7][14]
Problematische Aspekte
- Aktive Sterbehilfe: Eindeutig verboten (Harām)[8][9]
- Suizidassistenz: Religiös nicht vertretbar[2][13]
Die rechtliche Grundlage in Deutschland bildet § 1827 BGB, der die Bindungswirkung von Patientenverfügungen regelt.
Praktische Umsetzung: Schritt für Schritt
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Theologische Beratung
Nutzen Sie Angebote islamischer Organisationen wie des Zentralrats der Muslime oder lokaler Moscheegemeinden. Viele bieten spezielle Broschüren und Formulierungshilfen an[3][12]. -
Medizinische Aufklärung
Lassen Sie sich von Ärzt:innen über -
Formulierungshilfen nutzen
Adaptieren Sie Textbausteine des Bundesjustizministeriums unter Berücksichtigung islamischer Vorgaben:Ich, [Name], erkläre als Muslim/in im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte: Für den Fall, dass […] bitte ich unter Berücksichtigung der Grundsätze der Scharia um […][3][12]
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Regelmäßige Überprüfung
Die Hanafitische Rechtsschule empfiehlt eine Aktualisierung alle 2-3 Jahre oder bei wesentlichen Lebensveränderungen[1][11].
Die Rolle der Angehörigen
Obwohl der individuelle Wille priorisiert wird, betont der Islam die Verantwortung der Familie[6][7]:
- Konsensfindung: Ideal ist eine einvernehmliche Entscheidung zwischen Patient:in und Bezugspersonen[7][14]
- Vertretungsvollmacht: Benennen Sie explizit eine Person, die Ihre religiösen Überzeugungen teilt[5][12]
- Krisenmanagement: Dokumentieren Sie Kontaktdaten Ihres Seelsorgeteams bzw. Imams[3][10]
Ein Praxisbeispiel:
Ayshe Y., 68, vereinbarte mit ihren Kindern, dass lebensverlängernde Maßnahmen nur bis zur Diagnose “irreversibler Hirnschaden” erfolgen sollen. Ihre Tochter hält eine Kopie der Verfügung sowie Telefonnummern von drei islamischen Gelehrten bereit.
Besondere Herausforderungen
Hirntoddefinition
Während viele Mediziner:innen den Hirntod als Todeszeitpunkt ansehen, besteht in islamischen Kreisen Uneinigkeit[4][6]. Klären Sie in Ihrer Verfügung:
- Akzeptieren Sie die Hirntoddiagnose?
- Wie lange sollen Organe bei Spendebereitschaft versorgt werden?
Demenzverläufe
Frühphasen der Erkrankung nutzen, um klare Vorgaben zu machen:
- Welche Ernährung ist im Spätstadium akzeptabel?
- Ab welchem Punkt sollen Infektionen natürlich verlaufen?[11]
Rechtliche Absicherung
-
Vorsorgevollmacht
Kombinieren Sie die Patientenverfügung mit einer Vorsorgevollmacht, um Vertretungskompetenzen klar zu regeln. -
Beglaubigung
Lassen Sie das Dokument durch -
Verbreitung
Hinterlegen Sie Kopien bei- Familienangehörigen
- Hausarztpraxis
- Lokaler Moschee
- Krankenversicherung
Häufige Bedenken aus der Praxis
“Widerspricht eine Verfügung nicht der göttlichen Vorherbestimmung?”
Moderne Theolog:innen argumentieren, dass rationale Vorsorge Teil der gottgewollten menschlichen Verantwortung ist[2][14].
“Dürfen Angehörige gegen meinen Willen entscheiden?”
Deutsches Recht priorisiert klar dokumentierte Patientenwünsche vor mutmaßlichem Willen[5][14]. Bei Konflikten kann das Betreuungsgericht eingeschaltet werden.
“Gilt meine Verfügung auch in muslimischen Ländern?”
Nein. Klären Sie bei Auslandsaufenthalten zusätzlich die lokale Rechtslage. Manche Staaten erkennen deutsche Dokumente nicht an[4][7].
Ressourcen und Unterstützung
- Beratungsstellen:
Islamische Wohlfahrtsverbände wie Islamic Relief bieten kostenlose Hilfestellung - Mustervorlagen:
Das Erlanger Zentrum für Islam und Recht veröffentlicht theologiegeprüfte Formulare - Apps:
“My Peace” - Dokumentenmanager mit Erinnerungsfunktion für Aktualisierungen
Ihre nächsten Schritte
- Informationsgespräch mit Hausarztpraxis vereinbaren
- Theologische Beratung in Anspruch nehmen
- Erste Entwürfe mit Vertrauenspersonen besprechen
- Dokumente rechtssicher hinterlegen
Indem Sie sich aktiv mit Ihrer Gesundheitsvorsorge befassen, setzen Sie islamische Prinzipien der Verantwortungsübernahme konkret um. Eine gut durchdachte Patientenverfügung wird so zum Ausdruck Ihres Glaubens - nicht zu seinem Widerspruch.