Welche islamischen Gelehrte sprechen sich für oder gegen Patientenverfügungen aus?

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Zusammenfassung

Islamische Gelehrte sind mehrheitlich der Ansicht, dass Patienten­verfügungen zulässig sind, solange sie den Schutz des Lebens achten, aktive Lebensbeendigung ausschließen und islamische Werte berücksichtigen. Befürwortende Stimmen wie der Zentralrat der Muslime in Deutschland sehen darin eine Möglichkeit, die Selbstbestimmung mit dem Glauben zu verbinden, während konservative Gelehrte teils Vorbehalte äußern. Eine klare und religiös sensibilisierte Verfügung schafft Sicherheit für Betroffene und Angehörige.

In Deutschland gewinnt die Auseinander­setzung mit Patienten­verfügungen zunehmend an Bedeutung - auch in muslimischen Gemeinschaften. Viele Muslim:innen stehen vor der Frage, wie sie ihren Willen zur medizinischen Versorgung im Ernstfall mit ihrem Glauben vereinbaren können. Dieser Artikel beleuchtet die Positionen verschiedener islamischer Gelehrter und zeigt auf, welche Handlungs­optionen sich daraus ergeben.

Grundlagen des islamischen Lebensverständnisses

Aus islamischer Perspektive gilt das Leben als von Gott (Allah) gegebenes Geschenk, das besonderen Schutz genießt. Der Koran betont in Sure 5:32: „Wer einen Menschen tötet, … soll sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet“. Gleichzeitig existiert das Konzept der göttlichen Vorbe­stimmung (Qadar), das den Zeitpunkt des Todes als Teil von Allahs Plan versteht[2][6].

Diese Spannung zwischen menschlicher Selbstbe­stimmung und göttlicher Fügung bildet den Rahmen für alle medizin­ethischen Debatten im Islam. Moderne Gelehrte betonen dabei zunehmend die Verantwortung des Einzelnen, im Einklang mit islamischen Werten Vor­sorge zu treffen[1][3].

Befürwortende Stimmen unter muslimischen Gelehrten

Rechtliche Legitimierung durch Fatwas

Ein Rechtsgutachten des Europäischen Rats für Fatwa und Wissenschaft aus dem Jahr 2003 erkennt das Recht von Muslim:innen an, lebenserhaltende Maßnahmen bei unheil­baren Krankheiten zu begrenzen - vorausgesetzt, die Entscheidung erfolgt in Absprache mit medizinischen Expert:innen[1][4].

„Das islamische Recht entwickelt sich ständig weiter, um auf neue medizinische Heraus­forderungen zu reagieren. Eine wohlüberlegte Patienten­verfügung kann sogar als Akt der Gottes­hingabe verstanden werden“*[1].

Autonomie in der Sterbephase

Andere Theologen argumentieren für eine differenzierte Betrachtung moderner Medizintechnik und sind der Ansicht, dass Muslim:innen lebenserhaltende Maßnahmen ablehnen dürfen, wenn diese lediglich den Sterbe­prozess verlängern, ohne Heilungschancen zu bieten[2][6]. Sie plädieren für eine „ethisch begründete Selbstbe­stimmung“, die medizinische Möglichkeiten kritisch hinterfragt und verweisen dabei auf den koranischen Grundsatz: „Es soll keine Bedrängnis in der Religion geben“ (Sure 2:256)[2].

Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD): Klare Richtlinien

Der ZMD hat 2013 eine offizielle Stellungnahme veröffentlicht, die folgende Grundsätze festhält:

  1. Aktive Sterbehilfe und ärztlich assistierter Suizid sind strikt verboten
  2. Schmerz­therapie mit möglicher Lebens­verkürzung ist zulässig
  3. Patienten­verfügungen müssen islamische Werte berücksichtigen[4][7]

Diese Position wird durch eine Fatwa des Islamischen Weltverbands gestützt, die 2018 klärstellte: „Die Unterlassung aussichtsloser Therapien stellt keine Sünde dar, solange Grundversorgung gewährleistet bleibt“[5][7].

Kritische Positionen und Bedenken

Traditionalistische Gelehrte: Vorbehalte gegen Selbstbestimmung

Einige konservative Rechts­schulen argumentieren, dass jede Form der Lebensbeendigung - auch durch passives Unterlassen - Gottes alleiniges Recht sei. Der saudi-arabische Gelehrte Sheikh Ibn Jibreen warnte 2009: „Das Aufgeben von Behandlungen gleicht dem Infragestellen göttlicher Vorsehung“[6].

Diese Haltung findet sich besonders in ländlichen Gemeinschaften, wo Patienten­verfügungen oft mit Misstrauen begegnet wird. Kritiker befürchten eine Unter­minierung des islamischen Lebensschutzgebots[9].

Sufi-Gelehrte: Spirituelle Bedeutung des Leidens

Vertreter mystischer Strömungen betonen den läuternden Charakter von Schmerzen. „Jedes Leiden ist eine Gelegenheit zur spirituellen Reinigung. Wir sollten es nicht vorschnell medikamentös unterdrücken“[5].

Diese Position führt zu Vorbehalten gegenüber schmerz­lindernden Maßnahmen, die das Bewusstsein trüben könnten. Allerdings distanzieren sich viele moderne Gelehrte von dieser radikalen Haltung[4][6].

Rechtliche Rahmen­bedingungen in Deutschland

In Deutschland sind Patienten­verfügungen durch § 1827 BGB rechtlich verankert.

  1. Formvorschriften: Die Verfügung muss schriftlich verfasst und eigenhändig unterschrieben sein
  2. Inhaltsanforderungen: Konkrete Maßnahmen­kataloge statt allgemeiner Formulierungen
  3. Religiöse Klauseln: Explizite Erwähnung islamischer Bestattungs­wünsche und Seelsorge[3][8]

Muslimische Gelehrte betonen folgende Besonderheiten: „Eine gute muslimische Patienten­verfügung verbindet medizinische Präferenzen mit spirituellen Bedürfnissen. Sie sollte sowohl ärztliches Personal als auch Imame in die Entscheidungsfindung einbinden“[3][8].

Praktische Empfehlungen für die Erstellung

  1. Theologische Beratung
    Konsultieren Sie eine islamische Seelsorger:in oder eine beratende Stelle wie die Islamberatung Bayern. Viele Moschee­gemeinden bieten spezielle Vorsorge­seminare an[3][8].

  2. Medizinische Aufklärung
    Lassen Sie sich von Ihrem Hausarzt/ Ihrer Hausärztin über mögliche Szenarien aufklären. Fragen Sie konkret nach:

  3. Kultursensible Formulierung
    Nutzen Sie Mustertexte islamischer Verbände, die deutsche Rechts­vorgaben mit religiösen Bedürfnissen verbinden. Der ZMD plant 2025 die Veröffentlichung einer offiziellen Vorlage[7][8].

  4. Regelmäßige Aktualisierung
    Überprüfen Sie Ihre Verfügung alle 2-3 Jahre. Lebens­erfahrungen und medizinische Fortschritte können neue Entscheidungen erforderlich machen.

Aktuelle Entwicklungen und Dialog­initiativen

Seit 2021 fördert die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) den interdisziplinären Austausch zwischen:

  • Mediziner:innen
  • Rechts­wissenschaftler:innen
  • Islamischen Theolog:innen

Ziel ist die Entwicklung einer standardisierten Patienten­verfügung, die sowohl deutschen Rechts­normen als auch islamischen Wertvorstellungen entspricht. Bisherige Ergebnisse zeigen:

  • 87% der befragten Muslim:innen wünschen sich religiös sensibilisierte Formulare
  • 63% hatten bisher keine Patienten­verfügung aus Sorge vor Glaubenskonflikten[3][6]

Der Tübinger Palliativ­mediziner Dr. Ahmed Youssef resümiert: „Aufklärung ist der Schlüssel. Viele Befürchtungen lösen sich auf, wenn Menschen verstehen, dass der Islam moderne Vorsorgekonzepte nicht ausschließt“[5][9].

Handlungs­sicherheit in Krisensituationen

Für Angehörige und Betreuungs­personen gilt:

  1. Dokumente griffbereit halten
    Bewahren Sie die Patienten­verfügung gemeinsam mit Versicherten­karte und Organspende­ausweis an einem leicht zugänglichen Ort auf.

  2. Klinikpersonal informieren
    Weisen Sie bei Krankenhaus­aufenthalten aktiv auf religiöse Bedürfnisse hin. Viele Einrichtungen beschäftigen mittlerweile muslimische Seelsorger:innen.

  3. Ethik­kommission einbeziehen
    Bei Konflikten zwischen medizinischer Indikation und Patienten­wunsch können klinikinterne Ethik­gremien vermitteln.

Der Münchner Rechts­anwalt Mehmet Durgut betont: „Eine klar formulierte Patienten­verfügung gibt allen Beteiligten Sicherheit. Sie ist kein Ausdruck von Misstrauen, sondern verantwortungs­bewusste Fürsorge“[4][7].

Fazit: Selbstbestimmung im Einklang mit dem Glauben

Die über­wiegende Mehrheit moderner islamischer Gelehrter sieht in Patienten­verfügungen kein grundsätzliches Problem, solange sie:

  • Die Würde des Lebens wahren
  • Aktive Lebensbeendigung ausschließen
  • Spirituelle Bedürfnisse berücksichtigen

Wie der europäische Fatwa-Rat 2023 bekräftigte, kann eine sorgfältig erstellte Verfügung sogar „Ausdruck tiefen Gottvertrauens“ sein[1][8]. Entscheidend bleibt der Dialog zwischen Gläubigen, Medizin­fachkräften und Theolog:innen - nur so entstehen Lösungen, die rechtliche und religiöse Anforderungen vereinen.