Welche Rolle spielen Angehörige bei der Entscheidungsfindung?
Angehörige spielen eine zentrale Rolle bei der Entscheidungsfindung, wenn keine Patientenverfügung vorliegt, indem sie den mutmaßlichen Willen der betroffenen Person ermitteln und vertreten. Klare Vorsorgedokumente und offene Gespräche entlasten sie in dieser Verantwortung und sorgen für Handlungssicherheit. Durch eine Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht können Konflikte vermieden und Entscheidungen im Sinne der betroffenen Person getroffen werden.
Wenn Sie nicht mehr selbst entscheiden können, übernehmen Angehörige eine zentrale Verantwortung. Ihre Aufgabe ist es, Ihren Willen zu vertreten - selbst wenn keine schriftliche Patientenverfügung existiert. Dieser Artikel zeigt, wie Angehörige in unterschiedlichen Situationen handeln können, welche rechtlichen Rahmenbedingungen gelten und wie Sie gemeinsam für Klarheit sorgen.
Rechtliche Grundlagen der Entscheidungsbefugnis
Das Bürgerliche Gesetzbuch (§ 1827 BGB) regelt, wer im Ernstfall Entscheidungen trifft. Ohne Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht greift eine gesetzliche Hierarchie: Ehepartner:innen, eingetragene Lebenspartner:innen, volljährige Kinder und Eltern haben Vorrang[1][3]. Doch diese Reihenfolge garantiert nicht automatisch Handlungssicherheit. Angehörige müssen den mutmaßlichen Willen des Patienten ermitteln - eine komplexe Aufgabe, die Gespräche, frühere Äußerungen und Wertvorstellungen berücksichtigt[5][8].
Wann Angehörige entscheidungsbefugt sind
Entscheidungsrecht besteht nur, wenn drei Bedingungen erfüllt sind:
- Die betroffene Person ist einwilligungsunfähig
- Es liegt keine gültige Patientenverfügung vor
- Keine gerichtlich bestellte Betreuung oder Vorsorgevollmacht existiert[1][6]
In akuten Notfällen dürfen Ärzt:innen lebensrettende Maßnahmen auch ohne Zustimmung der Angehörigen einleiten[6]. Bei planbaren Eingriffen wie Operationen muss jedoch immer die Zustimmung der berechtigten Person eingeholt werden.
Die vier Stufen der Willensermittlung
Angehörige stehen vor der Herausforderung, zwischen persönlichen Wünschen und dem mutmaßlichen Willen zu unterscheiden. Die Rechtsprechung empfiehlt einen vierstufigen Prozess:
Aktuelle Äußerungen
Hat die Person kurz vor dem Entscheidungsverlust noch konkrete Wünsche geäußert? Diese haben Vorrang vor allen anderen Quellen[5].Schriftliche Dokumente
Tagebucheinträge, Briefe oder nicht notariell beglaubigte Notizen können Hinweise geben. Auch wenn sie keine rechtsverbindliche Patientenverfügung darstellen, müssen sie berücksichtigt werden[8].Wertvorstellungen und Lebensstil
Religiöse Überzeugungen, ethische Haltungen oder frühere Entscheidungen in ähnlichen Situationen fließen in die Interpretation ein. Ein Mensch, der stets lebensbejahend handelte, würde vermutlich lebenserhaltende Maßnahmen befürworten[4][7].Hypothetischer Wille
Fehlen alle Anhaltspunkte, entscheiden Angehörige nach dem sogenannten „besten Interesse“ - einer Abwägung zwischen Leidensminderung und Lebenserhaltung[1][5].
Praktische Schritte für Angehörige
1. Offene Gespräche führen
Nutzen Sie ruhige Momente, um über medizinische Wünsche zu sprechen. Fragen wie „Welche Lebensqualität ist für Sie unverzichtbar?“ oder „Würden Sie eine Langzeitbeatmung akzeptieren?“ helfen, Grenzen zu definieren[3][4]. Dokumentieren Sie solche Gespräche schriftlich und bewahren Sie die Notizen gemeinsam mit wichtigen Unterlagen auf.
2. Vorsorgevollmacht erstellen
Eine Vorsorgevollmacht benennt konkret, wer Entscheidungen treffen darf. Im Gegensatz zur Patientenverfügung regelt sie nicht nur medizinische Fragen, sondern auch finanzielle oder aufenthaltsrechtliche Aspekte[4][7]. Ärzt:innen sind verpflichtet, die bevollmächtigte Person in Behandlungsentscheidungen einzubeziehen.
3. Betreuungsverfügung hinterlegen
In einer Betreuungsverfügung können Sie Wünsche zur Person des gesetzlichen Betreuers äußern. Das Gericht muss diesen Wünschen folgen, sofern keine triftigen Gründe dagegensprechen[3][7]. Dies verhindert, dass fremde Personen als Betreuer:innen bestellt werden.
4. Krisenkommunikation vorbereiten
Erstellen Sie eine Liste mit Kontaktdaten aller behandelnden Ärzt:innen, Medikamentenpläne und Kopien relevanter Dokumente. Bewahren Sie diese Unterlagen an einem leicht zugänglichen Ort auf - etwa im Portmonee oder als digitales Dokument auf dem Smartphone[7][8].
Typische Konflikte und Lösungsansätze
Uneinigkeit unter Angehörigen
Wenn mehrere Familienmitglieder unterschiedliche Auffassungen vertreten, kann das Betreuungsgericht einen rechtlichen Betreuer bestellen[1][6]. Um solche Situationen zu vermeiden, empfiehlt sich die Benennung einer Hauptvertrauensperson in der Vorsorgevollmacht.
Unterschiedliche Einschätzung zum Therapieziel
Ärzt:innen sind verpflichtet, medizinisch sinnvolle Maßnahmen vorzuschlagen. Angehörige dürfen jedoch jede Behandlung ablehnen - selbst wenn diese lebensrettend wäre[5][6]. Bei Konflikten zwischen medizinischem Rat und Patientenwillen können klinische Ethikkommissionen vermitteln[5].
Zeitdruck in Akutsituationen
Notfallmediziner:innen betonen: Je detaillierter die Vorsorgedokumente, desto schneller können Angehörige handeln[1][8]. Ein Kurzprotokoll mit Kernaussagen (z. B. „Keine Wiederbelebung bei Hirntod“) auf der Rückseite der Gesundheitskarte gibt Sicherheit.
Die emotionale Dimension der Entscheidungsfindung
Viele Angehörige belastet die Verantwortung, über Leben und Tod zu entscheiden. Studien zeigen, dass Entscheidungsträger:innen langfristig unter Schuldgefühlen oder Selbstzweifeln leiden[1]. Psychologische Beratungsstellen und hospizliche Begleitdienste bieten hier Unterstützung.
Wichtig ist: Sie handeln nicht allein. Ärzt:innen, Pflegefachkräfte und Seelsorger:innen begleiten den Prozess. Ihr Urteil basiert auf medizinischen Fakten - Ihre Rolle ist es, die persönlichen Werte des Betroffenen einzubringen[4][5].
Handlungsempfehlungen für Betroffene
- Erstellen Sie eine Patientenverfügung - selbst kurze Notizen entlasten Angehörige
- Besprechen Sie Ihre Wünsche mit mindestens zwei Vertrauenspersonen
- Hinterlegen Sie Dokumente beim Hausarzt/der Hausärztin und beim Zentralen Vorsorgeregister
- Überprüfen Sie die Unterlagen alle zwei Jahre oder bei gravierenden Lebensveränderungen
Fazit
Angehörige tragen eine schwere Bürde, wenn keine Patientenverfügung existiert. Durch frühzeitige Vorsorge können Sie ihnen Entscheidungssicherheit schenken. Letztlich geht es nicht um perfekte Formulare, sondern darum, Ihre Haltung zum Leben und Sterben verständlich zu machen. Jedes Gespräch, jeder Zettel mit Notizen wird zum Kompass in der Krise - und zur Entlastung für die Menschen, die Sie lieben.