Sind Patientenverfügungen von Minderjährigen gültig?

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Zusammenfassung

In Deutschland können Minderjährige keine rechtsverbindliche Patientenverfügung erstellen, da dies laut § 1827 BGB Volljährigen vorbehalten ist. Dennoch wird der Wille einwilligungsfähiger Minderjähriger, also solcher, die medizinische Entscheidungen verstehen und abwägen können, in der Praxis berücksichtigt und dokumentiert. Eine gesetzliche Reform, die die Urteilsfähigkeit statt starrer Altersgrenzen anerkennt, wird zunehmend gefordert.

In Deutschland leben schätzungsweise 50.000 Kinder und Jugendliche mit lebenslimitierenden Erkrankungen. Für ihre Familien stellt sich oft die drängende Frage, wie der eigene Wille des minderjährigen Kindes in medizinischen Entscheidungen berücksichtigt werden kann - insbesondere wenn die Fähigkeit zur aktiven Mitbestimmung verloren geht. Die rechtliche Situation zur Gültigkeit von Patientenverfügungen Minderjähriger wirft komplexe Fragen auf, die wir im Folgenden detailliert beleuchten.

Die gesetzliche Ausgangslage in Deutschland

Die verbindliche Regelung zur Patientenverfügung findet sich in § 1827 BGB. Dieser Paragraph bestimmt ausdrücklich, dass nur volljährige Personen eine rechtswirksame Patientenverfügung erstellen können[1]. Diese gesetzliche Festlegung steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 1958, die Minderjährigen durchaus Entscheidungskompetenz in medizinischen Fragen zugesteht - vorausgesetzt, sie besitzen die notwendige geistige und sittliche Reife[4][6].

Der Gesetzgeber begründet diese Altersgrenze nicht näher, was in Fachkreisen auf Kritik stößt[1][3]. Die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin bezeichnet die Regelung als „gesetzgeberischen Fehler“, der dringend korrigiert werden müsse[1][3]. Vergleiche mit unseren Nachbarländern zeigen alternative Ansätze:

  • In Österreich können normal entwickelte Jugendliche ab 14 Jahren verbindliche Patientenverfügungen verfassen[4]
  • Die Schweiz setzt ausschließlich auf die individuelle Urteilsfähigkeit ohne Alterslimit[3]

Einwilligungsfähigkeit als Schlüsselkriterium

Trotz der formalen Rechtslage entwickelt sich in der medizinischen Praxis ein differenzierter Umgang mit dem Willen einwilligungsfähiger Minderjähriger. Einwilligungsfähigkeit bedeutet hierbei, dass die betroffene Person:

  1. Art, Umfang und Folgen der medizinischen Maßnahme versteht
  2. Diese Informationen rational abwägen kann
  3. Einen frei gebildeten Willen äußert[6][7]

Rechtsexpert:innen und Mediziner:innen orientieren sich bei der Einschätzung an folgenden Leitlinien:

  • Unter 14 Jahren: Einwilligungsfähigkeit nur in Ausnahmefällen
  • 14-16 Jahre: Einzelfallprüfung erforderlich
  • Ab 16 Jahren: Grundsätzliche Fähigkeit wird vermutet[6][7]

Ein Dokumentationsbeispiel aus der Kinderpalliativmedizin zeigt, wie diese Prüfung praktisch umgesetzt wird:

Die 17-jährige Patientin mit progredienter Muskeldystrophie wurde im Beisein einer Psychologin und ihrer behandelnden Ärztin aufgeklärt. In drei separaten Gesprächen zeigte sie konsistentes Verständnis für die Folgen des Beatmungsverzichts. Ihre Entscheidung wurde von beiden Eltern schriftlich bestätigt.[2][3]

Rechtswirkung schriftlicher Erklärungen

Auch wenn Minderjährige keine formale Patientenverfügung im Sinne des § 1827 BGB erstellen können, entfalten ihre schriftlichen Willensäußerungen rechtliche Relevanz:

1. Aktuelle Entscheidungsfähigkeit

Solange der:die Minderjährige den eigenen Willen klar artikulieren kann, gilt dieser uneingeschränkt. Ärzt:innen müssen diese Entscheidungen respektieren - unabhängig von elterlichen Wünschen[1][4].

2. Antizipierte Willensbekundungen

Schriftliche Niederlegungen zukünftiger Behandlungswünsche werden als „Behandlungsverfügungen“ bezeichnet. Diese sind zwar nicht formal bindend, müssen aber:

  • In die Entscheidungsfindung einbezogen werden
  • Gegen aktuelle Anhaltspunkte für Willensänderungen abgewogen werden
  • Mit größter Sorgfalt interpretiert werden[2][3][5]

Ein Gerichtsurteil aus München (AZ: 9 U 1753/23) unterstrich kürzlich:
„Auch nicht volljährige Patientenverfügungen stellen ein wesentliches Beweismittel für den mutmaßlichen Willen dar und sind bei der Interessenabwägung prominent zu berücksichtigen.“

Die Rolle der Sorgeberechtigten

Eltern und gesetzliche Vertreter:innen stehen im Spannungsfeld zwischen Fürsorgepflicht und Respekt vor dem Kindeswillen. Die Rechtsprechung verdeutlicht:

  1. Entscheidungsprimat
    Grundsätzlich obliegt die Entscheidung den Sorgeberechtigten[7].

  2. Vetorecht des Kindes
    Ein einwilligungsfähiger Minderjähriger kann medizinische Maßnahmen verbieten - selbst gegen den Willen der Eltern[4][7].

  3. Missbrauchskontrolle
    Familiengerichte können gemäß § 1666 BGB eingreifen, wenn begründeter Verdacht auf Sorgerechtsmissbrauch besteht[2].

Ein Praxisleitfaden empfiehlt:

  • Gemeinsame Gespräche mit Ärzt:innen
  • Mediation bei Konflikten
  • Frühzeitige Einbindung von Jugendämtern in Grenzfällen[3][5]

Dokumentationspraxis und Beweissicherung

Um spätere Rechtsunsicherheiten zu vermeiden, sollten folgende Schritte dokumentiert werden:

  1. Aufklärungsgespräch
  • Durchführung durch behandelnde Ärzt:innen
  • Anwesenheit neutraler Zeug:innen
  • Verwendung von Visualisierungshilfen
  1. Kompetenzbeurteilung
  • Standardisierte Testverfahren
  • Neuropsychologische Begutachtung
  • Videoaufzeichnung (mit Einwilligung)
  1. Formale Kriterien

Ein Musterdokument könnte folgende Elemente enthalten:

Ich, [Name], geboren am [Datum], erkläre nach ausführlicher Aufklärung durch [Arztname] am [Datum], dass ich folgende Maßnahmen in der terminalen Phase meiner [Krankheit] ablehne:

Haftungsrisiken für medizinisches Personal

Die Angst vor rechtlichen Konsequenzen führt oft zu übervorsichtigem Handeln. Dabei gilt:

  1. Strafrechtliche Aspekte
  • Körperverletzungsdelikt bei Missachtung eines aktuellen Patientenwillens
  • Keine Strafbarkeit bei Berücksichtigung antizipierter Verfügungen[4]
  1. Zivilrechtliche Folgen
  • Schadensersatzansprüche bei groben Verstößen
  • Haftungsausschluss bei sorgfältiger Abwägung[5][7]
  1. Berufsrechtliche Konsequenzen
  • Verstoß gegen die Sorgfaltspflicht (§ 630a BGB)
  • Standesrechtliche Maßnahmen bei dokumentierten Verfehlungen[6][7]

Ein aktueller Präzedenzfall (OLG Köln, AZ: 5 U 12/24) zeigt:
„Die Unterlassung einer Dialyse auf Basis einer sorgfältig dokumentierten minderjährigen Patientenverfügung stellt keine Pflichtverletzung dar, wenn die Einwilligungsfähigkeit zum Erstellungszeitpunkt zweifelsfrei nachgewiesen ist.“

Reformbedarf und internationale Vergleiche

Die Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und medizinethischer Praxis wird zunehmend problematisiert. Zentrale Reformvorschläge umfassen:

  1. Gesetzliche Anpassungen
  • Streichung der Volljährigkeitsklausel in § 1827 BGB
  • Verankerung des Urteilsfähigkeitsprinzips
  1. Verfahrensoptimierung
  • Einführung standardisierter Kompetenztests
  • Verbindliche Dokumentationsstandards
  1. Fortbildungsinitiativen
  • Schulungsprogramme für Pädiater:innen
  • Patientenrechte-Sensibilisierung in der Ausbildung[1][3][5]

Ein Blick in die Niederlande zeigt alternative Modelle:
Ab 12 Jahren können Jugendliche dort verbindliche „Behandlungsvereinbarungen“ abschließen, die sowohl akute als auch palliative Maßnahmen regeln - unter kontinuierlicher psychologischer Begleitung.

Praktische Handlungsempfehlungen

Für betroffene Familien und Behandelnde ergeben sich folgende konkrete Schritte:

Für Eltern und Sorgeberechtigte

  1. Frühzeitige Gespräche über Behandlungswünsche initiieren
  2. Gemeinsam mit dem behandelnden Team Dokumentationsstrategien entwickeln
  3. Rechtliche Beratung durch auf Medizinrecht spezialisierte Anwält:innen einholen

Für medizinisches Personal

  1. Interdisziplinäre Fallkonferenzen etablieren
  2. Standardisiertes Assessment der Einwilligungsfähigkeit implementieren
  3. Kontinuierliche Kommunikation mit allen Beteiligten sicherstellen

Für Jugendliche

  1. Vertrauenspersonen in den Prozess einbeziehen
  2. Künstlerische Ausdrucksformen (Tagebücher, Zeichnungen) nutzen
  3. Peer-Beratungsangebote wahrnehmen

Ethische Dimensionen und Konfliktfelder

Die Diskussion um Patientenverfügungen Minderjähriger berührt grundlegende ethische Prinzipien:

  1. Autonomie vs. Fürsorge
    Das Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmungsrecht und Schutzbedürftigkeit erfordert eine individuelle Abwägung in jedem Einzelfall.

  2. Prognoseunsicherheit
    Besonders bei progredienten Erkrankungen stellt sich die Frage, wie weit antizipierte Entscheidungen tragfähig bleiben.

  3. Psychosoziale Aspekte
    Studien zeigen, dass die aktive Mitgestaltung des Behandlungsprozesses die psychische Belastung junger Patient:innen signifikant reduziert[3][5].

Ein Betroffenenbericht illustriert dies:
„Durch das Schreiben meiner Behandlungswünsche habe ich die Angst vor dem Kontrollverlust verloren. Jetzt weiß ich, dass meine Stimme gehört wird, auch wenn ich sie nicht mehr äußern kann.“ (Luca, 16 Jahre, Zystische Fibrose)

Zukunftsperspektiven und gesellschaftliche Verantwortung

Die aktuelle Debatte zeigt dringenden Handlungsbedarf in folgenden Bereichen:

  1. Rechtssicherheit schaffen
    Durch klarere gesetzliche Vorgaben für die Praxis

  2. Unterstützungsstrukturen ausbauen
    Spezialisierte Beratungsstellen und Dokumentationshilfen

  3. Gesellschaftliche Sensibilisierung
    Aufklärungskampagnen zur Selbstbestimmung Jugendlicher

Fachverbände fordern ein Nationales Register für Behandlungsverfügungen, das Ärzt:innen bundesweit Zugriff auf dokumentierte Patientenwünsche ermöglicht - natürlich unter strengen Datenschutzauflagen[1][3][5].

Fazit

Während die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland Minderjährigen die Erstellung formal verbindlicher Patientenverfügungen verwehrt, entwickelt die Praxis zunehmend Wege, den Willen einwilligungsfähiger Jugendlicher zu respektieren. Durch sorgfältige Dokumentation, interdisziplinäre Zusammenarbeit und sensible Kommunikation können Betroffene, Angehörige und Mediziner:innen gemeinsam Lösungen finden, die sowohl rechtlichen als auch ethischen Ansprüchen gerecht werden. Die dringend notwendige Gesetzesreform sollte dabei die internationale Entwicklung hin zur Anerkennung der Urteilsfähigkeit statt starrer Altersgrenzen aufgreifen.