Was ist das Locked-in-Syndrom?

Zusammenfassung

Das Locked-in-Syndrom ist ein neurologischer Zustand, bei dem Betroffene bei vollem Bewusstsein sind, aber aufgrund einer fast vollständigen Lähmung weder sprechen noch sich bewegen können. Die Kommunikation erfolgt meist über Augenbewegungen oder Blinzeln, während intensive Pflege und unterstützende Technologien den Alltag erleichtern können. Eine respektvolle Ansprache und die Einbeziehung in Entscheidungen sind entscheidend, da das Denkvermögen vollständig erhalten bleibt.

Das Locked-in-Syndrom ist ein seltenes neurologisches Krankheitsbild, bei dem Betroffene bei vollem Bewusstsein sind, jedoch aufgrund einer fast vollständigen Lähmung weder sprechen noch sich bewegen können. Die einzige verbliebene Möglichkeit der Kommunikation besteht meist nur über Augenbewegungen und Blinzeln. Dieser Artikel informiert über den Zustand, seine Ursachen, Behandlungs­möglichkeiten und die besonderen Herausforderungen für Betroffene und Angehörige.

Nahaufnahme ruhiger Patientenaugen im Krankenhaus, mit Monitor im Hintergrund und weichem Licht fokussiert auf den Blick.

Was ist das Locked-in-Syndrom?

Das Locked-in-Syndrom (kurz LiS), auch als Eingeschlossensein- oder Gefangensein-Syndrom bezeichnet, ist ein Zustand, bei dem Menschen bei vollem Bewusstsein sind, jedoch aufgrund einer umfassenden Lähmung ihren Körper nicht mehr kontrollieren können[2][13]. Die Besonderheit: Während der Körper vollständig gelähmt ist, bleiben das Bewusstsein und die geistigen Fähigkeiten unbeein­trächtigt[1][2].

Betroffene können:

  • hören und sehen
  • normal denken und fühlen
  • ihre Umgebung wahrnehmen
  • meist ihre Augen vertikal bewegen und blinzeln

Sie können jedoch nicht:

  • sprechen
  • ihren Körper bewegen
  • selbstständig atmen
  • essen oder schlucken[1][2][8]

Das Syndrom unterscheidet sich vom Wachkoma dadurch, dass Menschen im Wachkoma nur minimale Anzeichen von Bewusstsein zeigen und nicht gezielt kommunizieren können. Bei Menschen mit Locked-in-Syndrom ist hingegen das volle Bewusstsein erhalten[2].

Ursachen des Locked-in-Syndroms

Das Locked-in-Syndrom entsteht durch eine Schädigung bestimmter Bereiche des Gehirns, insbesondere des Pons (Teil des Hirnstamms) oder des ventralen Mittelhirns[1][3][4]. Diese Bereiche sind für die Weiter­leitung von Bewegungs­befehlen vom Gehirn an die Muskeln verantwortlich.

Die häufigsten Ursachen sind:

  • Schlaganfall: Eine Blutung oder ein Verschluss (Infarkt) der Arteria basilaris, die den Hirnstamm versorgt, ist die häufigste Ursache[1][3]
  • Infektionen des Gehirns
  • Tumore im Bereich des Hirnstamms
  • Demyelinisierende Erkrankungen (Erkrankungen, bei denen die Schutzschicht der Nervenzellen angegriffen wird)
  • Traumata (Verletzungen) des Gehirns
  • Arteriovenöse Fehlbildungen (abnorme Verbindungen zwischen Arterien und Venen)
  • Vergiftungen oder Medikamenten­nebenwirkungen
  • Selten: Guillain-Barré-Syndrom und andere Nerven­erkrankungen[1][3][9]

Symptome und Anzeichen

Die Symptome des Locked-in-Syndroms sind deutlich erkennbar und bestehen aus einer Kombination von Ausfällen bei erhaltener Wachheit:

  • Tetraplegie: Vollständige Lähmung aller vier Extremitäten[1][3]
  • Anarthrie: Unfähigkeit zu sprechen aufgrund der Lähmung der Sprechmuskulatur[1]
  • Dysphagie: Schluckstörungen, die eine normale Nahrungs­aufnahme unmöglich machen[13]
  • Erhaltene vertikale Augen­bewegungen: Betroffene können ihre Augen nach oben und unten bewegen sowie blinzeln[1][2][8]
  • Normale kognitive Funktionen: Das Denk­vermögen, die Wahr­nehmung und das Bewusstsein bleiben vollständig erhalten[1][2][3]
  • Normale Schlaf-Wach-Zyklen: Betroffene haben einen regulären Rhythmus von Wachheit und Schlaf[1]

Beim vollständigen Locked-in-Syndrom (completely locked-in state, CLIS) ist auch die Fähigkeit zur Augen­bewegung verloren gegangen, was die Kommunikation erheblich erschwert[8][13].

Diagnose

Die Diagnose des Locked-in-Syndroms erfolgt hauptsächlich klinisch durch die Beobachtung der typischen Symptome[4]. Die Heraus­forderung besteht darin, das Locked-in-Syndrom von anderen Bewusstseins­störungen zu unterscheiden.

Wichtig für die Diagnose sind:

  • Der Nachweis des erhaltenen Bewusstseins bei gleichzeitiger vollständiger Lähmung
  • Die Fähigkeit, auf Aufforderungen mit Augen­bewegungen zu reagieren
  • Der Ausschluss anderer Ursachen für die Symptome durch bildgebende Verfahren wie MRT oder CT

Elektro­enzephalographie (EEG) zeigt meist normale Hirnströme, was den Unterschied zu anderen Bewusstseins­störungen verdeutlicht[8].

Behandlung und Therapie­möglichkeiten

Für das Locked-in-Syndrom gibt es keine heilende Behandlung[3][10]. Die Therapie konzentriert sich auf:

  1. Unterstützende Maßnahmen:

    • Sicherstellung der Atmung (meist durch künstliche Beatmung)
    • Gewähr­leistung einer ausreichenden Ernährung (meist über Sonden)
    • Vorbeugung von Komplikationen wie Lungen­entzündung, Harnwegs­infektionen und Thrombo­embolien[3]
  2. Rehabilitations­maßnahmen:

    • Physio­therapie zur Vorbeugung von Kontrakturen (Versteifungen)
    • Ergo­therapie zur Förderung von Bewegungs­funktionen
    • Logo­pädie zur Unterstützung der Kommunikation[3][10][12]
  3. Kommunikations­training:

    • Etablierung eines Kommunikations­codes durch Augen­blinzeln
    • Anpassung von technischen Hilfsmitteln wie Computer-Terminals oder Gehirn-Computer-Schnittstellen[3]

Eine frühzeitige und intensive Rehabilitation kann die Erfolgs­aussichten verbessern[12]. Einzelne Betroffene können durch konsequentes Training einige Funktionen wieder­erlangen.

Kommunikations­möglichkeiten für Betroffene

Die Kommunikation stellt für Menschen mit dem Locked-in-Syndrom eine der größten Heraus­forderungen dar. Folgende Methoden können helfen:

  • Augen­bewegungs­code: Durch vereinbarte Muster von Augen­bewegungen oder Blinzeln können einfache Fragen mit “Ja” oder “Nein” beantwortet werden[1][3][13]

  • Buchstabier­tafeln: Durch Blick­bewegungen können Buchstaben ausgewählt und so Wörter und Sätze gebildet werden

  • Assistive Technologien:

    • Augen­steuerungs­systeme für Computer
    • Brain-Computer-Interfaces (BCI), die Gehirn­aktivität direkt in Steuerungs­signale umwandeln
    • Spezielle Software zur Unterstützung der Kommunikation[3][13]

Der französische Journalist Jean-Dominique Bauby, selbst vom Locked-in-Syndrom betroffen, schrieb durch Blinzeln ein ganzes Buch (“Schmetterling und Taucherglocke”), indem er jeweils durch ein Blinzeln einen Buchstaben auswählte, der ihm vorgelesen wurde.

Alltag mit dem Locked-in-Syndrom und Pflege

Menschen mit dem Locked-in-Syndrom benötigen rund um die Uhr Pflege und Betreuung[2]. Die Pflege umfasst:

  • Grund­pflegerische Maßnahmen: Körper­pflege, Lagerungs­wechsel, Ernährung über Sonde

  • Prophylaktische Maßnahmen:

    • Kontraktur­prophylaxe durch regelmäßige Bewegungs­übungen
    • Pneumonie­prophylaxe durch richtige Lagerung und Absaugung
    • Dekubitus­prophylaxe (Vorbeugung von Druck­geschwüren) durch Positions­wechsel und spezielle Matratzen[12]
  • Beatmung: Viele Betroffene müssen künstlich beatmet werden, da die Atemmuskulatur gelähmt ist[2]

  • Konzeptionelle Pflege­methoden: Beispielsweise die geführte Pflege­intervention nach dem Affolter Modell, bei der Betroffene aktiv in den Pflege­prozess einbezogen werden[12]

Die Pflege­fachkräfte sollten stets bedenken, dass die Betroffenen alles verstehen können und bei Bewusstsein sind. Eine respektvolle Ansprache und Einbeziehung in alle Entscheidungen sind daher besonders wichtig.

Rolle der Angehörigen

Angehörige spielen eine zentrale Rolle bei der Betreuung von Menschen mit dem Locked-in-Syndrom:

  • Sie bieten emotionale Unterstützung und vermitteln ein Gefühl der Normalität

  • Sie können als Dolmetscher:innen dienen, da sie die individuellen Kommunikations­signale oft am besten verstehen

  • Sie sind wichtige Fürsprecher:innen für die Rechte und Bedürfnisse der Betroffenen

  • Sie können in die Pflege und Therapie einbezogen werden und so zur Rehabilitation beitragen[12]

Gleichzeitig stehen Angehörige vor großen emotionalen und praktischen Heraus­forderungen. Selbsthilfe­gruppen und psychologische Unterstützung können hilfreich sein, um mit der Situation umzugehen[7].

Rechtliche Aspekte und Patienten­verfügung

Bei einem Locked-in-Syndrom entstehen zahlreiche rechtliche Fragen:

  • Rechtliche Betreuung: Für Menschen mit Locked-in-Syndrom kann eine rechtliche Betreuung eingerichtet werden, wenn sie ihre rechtlichen Angelegen­heiten nicht selbst regeln können[6][15]. Die rechtliche Betreuung ist seit 2023 in den §§ 1814 ff. BGB geregelt.

  • Patienten­verfügung: In einer Patienten­verfügung können Sie im Voraus festlegen, welche medizinischen Maßnahmen Sie in bestimmten Situationen wünschen oder ablehnen[5][11]. Bezüglich des Locked-in-Syndroms ist es wichtig, konkret festzulegen, ob lebens­erhaltende Maßnahmen gewünscht sind.

  • Entscheidungs­fähigkeit: Menschen mit Locked-in-Syndrom sind in der Regel entscheidungs­fähig, auch wenn sie sich nur eingeschränkt mitteilen können. Ihre Wünsche müssen respektiert werden[3].

Es gibt kontroverse Diskussionen darüber, inwieweit Patienten­verfügungen ohne die Beteiligung von Betroffenen mit schweren neurologischen Erkrankungen erstellt wurden[14]. Daher ist es wichtig, sich gründlich zu informieren und verschiedene Szenarien zu bedenken.

Lebens­qualität und psychologische Aspekte

Entgegen der Erwartung vieler Menschen berichten viele Betroffene mit Locked-in-Syndrom von einer akzeptablen Lebens­qualität[14]. Studien zeigen, dass die subjektive Lebens­zufriedenheit oft höher ist als von Außen­stehenden angenommen.

Wichtige Faktoren für die Lebens­qualität sind:

  • Eine funktionierende Kommunikation
  • Soziale Einbindung und Teilhabe
  • Respektvoller Umgang und Anerkennung der Person
  • Anpassung des Umfelds an die Bedürfnisse
  • Psychologische Unterstützung bei der Verarbeitung der Situation

Die psychologische Betreuung sowohl der Betroffenen als auch der Angehörigen sollte ein wesentlicher Bestandteil des Behandlungs­konzepts sein.

Prävention und Ausblick

Da das Locked-in-Syndrom häufig durch Schlaganfälle verursacht wird, können allgemeine Maßnahmen zur Schlaganfall­prävention das Risiko senken:

  • Behandlung von Bluthochdruck
  • Gesunde Ernährung und regelmäßige Bewegung
  • Verzicht auf Nikotin
  • Kontrolle von Diabetes und Cholesterin­werten
  • Vermeidung von übermäßigem Alkohol­konsum[12]

Die Forschung arbeitet kontinuierlich an der Verbesserung von Kommunikations­technologien für Menschen mit schweren Lähmungen. Gehirn-Computer-Schnittstellen, die direkt Gehirn­signale auslesen und in Aktionen umsetzen können, bieten vielversprechende Möglich­keiten für die Zukunft[3].

Fazit

Das Locked-in-Syndrom ist eine schwerwiegende neurologische Erkrankung, die Betroffene vor außergewöhnliche Heraus­forderungen stellt. Trotz der fast vollständigen körperlichen Lähmung bleiben Bewusstsein und Denk­vermögen intakt, was eine einzigartige Situation darstellt.

Mit geeigneten Kommunikations­methoden, intensiver Therapie und umfassender Pflege können Menschen mit Locked-in-Syndrom am Leben teilhaben. Eine respektvolle Ansprache und die Einbeziehung in alle Entscheidungen sind essentiell, da die Betroffenen alles verstehen können.

Für Angehörige und Betreuende ist es wichtig zu wissen, dass hinter der unbeweglichen Fassade ein Mensch mit unveränderten Gefühlen, Gedanken und Bedürfnissen ist. Mit den richtigen Hilfsmitteln und Unterstützungs­maßnahmen kann eine Kommunikation ermöglicht und die Lebens­qualität verbessert werden.