Psychiatrische Patientenverfügungen? Deshalb sind sie in Deutschland umstritten

Patientenverfügung.digital

erstellt am:

2023-11-02

letzte Änderung:

2023-11-06

In vielen Ländern sind psychiatrische Patientenverfügung umstritten. Was ist der Unterschied zur gewöhnlichen Verfügung und was sind die Risiken? Wir beantworten Ihnen die wichtigsten Fragen.

psychiatrische Patientenverfügung

Das Wichtigste auf einen Blick

  • Psychiatrische Patientenverfügungen sind besonders für Menschen mit psychiatrischen Vorerkrankungen relevant und ermöglichen es, im Voraus Behandlungswünsche für Krisenzeiten festzulegen.

  • Die Odysseus-Verfügung ist eine spezielle Form der psychiatrischen Patientenverfügung, die auch bei anderem Willen während der Krise Bestand hat.

  • Odysseus-Verfügungen bieten mehr Selbstbestimmung und ermöglichen präventive Einweisungen vor größeren Krisen. Sie bergen jedoch auch das Risiko des Missbrauchs oder der Nichtbeachtung im Notfall.

  • Eine sorgfältige Erstellung und regelmäßige Überprüfung der Verfügung ist wichtig. Am besten zusammen mit neutralen Beratern und nicht nur behandelnden Ärzten.

Was ist eine Patientenverfügung?

Eine Patientenverfügung ist ein wichtiges Vorsorgedokument. So können Sie im Voraus bestimmen, welche medizinischen Maßnahmen Sie wünschen oder ablehnen – falls Sie dazu aufgrund einer Krankheit oder einem Unfall nicht mehr in der Lage sind. In der Verfügung können Sie unter anderem Ihre persönlichen Wünsche bezüglich lebenserhaltenden Behandlungen oder Schmerztherapie festlegen. Das Ziel: Ärzte und Angehörige kennen und behandeln Sie gemäß Ihrem Willen, wenn Sie ihn nicht mehr mitteilen können.

Was ist eine psychiatrische Patientenverfügung?

Die meisten Patientenverfügungen beschäftigen sich mit dem Lebensende (End of Life (EOL)). So regelt man Zustände und Behandlungen, die typischerweise am Lebensende oder in Situationen mit schweren körperlichen Einschränkungen auftreten.

Im Gegensatz zu (EOL)-Patientenverfügungen geht es bei psychiatrischen Verfügungen vor allem um Zustände bei temporärer Urteilsunfähigkeit während einer seelischen Krise. Sobald die Person nach akuter Krankheitsphase wieder urteilsfähig ist, kann sie selbst über die Behandlungsmassnahmen entscheiden.

Während Patientenverfügungen bei körperlichen Beeinträchtigungen weit verbreitet sind, sind sie bei psychischen Beeinträchtigungen umstritten.

Für wen eignen sich psychiatrische Patientenverfügungen?

Psychiatrische Patientenverfügungen eignen sich für alle, die bereits psychiatrisch behandelt wurden. Vor allem für Personen mit vorheriger stationärer oder psychiatrischer Behandlung kann eine psychiatrische Patientenverfügung sinnvoll sein. Allein durch das Verfassen der Verfügung setzen sich Betroffene mit ihren Erfahrungen, Werten, Zielen, Schwächen und Plänen auseinander – und können ihren Genesungsweg bestmöglich selbst bestimmen.

Was ist eine Odysseus-Verfügung?

Eine Odysseus-Verfügung ist eine Art der psychiatrischen Patientenverfügungen. Sie wird auch als "selbstbindende" Verfügung bezeichnet – und verdankt ihrem Namen der griechischen Mythologie. Odysseus liess sich auf seiner Irrfahrt von seinen Seeleuten an den Mast seines Schiffes binden, um den verführerischen Gesang der Sirenen zu widerstehen. Er wusste, dass er während des Gesangs der Sirenen nicht mehr rational handeln würde und trifft daher eine Vorsorgeentscheidung: Er ordnet an, dass seine Befehle ignoriert werden sollen, wenn er unter dem Einfluss der Sirenen steht.

Ähnlich funktioniert die Odysseus-Verfügung: Hier können Personen medizinischen Maßnahmen im Voraus zustimmen, die sie während einer psychiatrischen Krise mit grosser Wahrscheinlichkeit ablehnen würden.

Wichtig: In Deutschland muss der rechtliche Rahmen für Odysseus-Verfügungen noch geschaffen werden. Aktuell kommt die Odysseus-verfügung vor allem in den Niederlanden zum Einsatz.

"Eine Odysseus-Verfügung statuiert die Geltung und die Unwiderruflichkeit der Einwilligung trotz eines etwaigen entgegenstehenden Willens im Krankheitsfall. Das kann die Vornahme einer ärztlichen Zwangsmaßnahme entgegen dem Patienten willen im Behandlungszeitpunkt zur Folge haben"

- Lukas Brechtken in "psychiatrische Patientenverfügungen und die Odysseus-Problematik"

Welche Vorteile bieten Odysseus-Verfügungen?

Eine Studie verschiedener Universitäten (Charité Berlin, Vrije Universiteit Amsterdam, King’s College London, Ruhr-Universität Bochum) verglich die Chancen und Risiken einer Odysseus-Verfügung im Rahmen des SALUS-Projekts. Demnach überwiegen die Vorteile deutlich.

Vor allem bietet eine Odysseus-Verfügung Patienten mehr Kontrolle über ihr Leben und ihre Behandlung. Ein Beispiel: Für eine psychiatrische Zwangseinweisung oder -behandlung muss normalerweise eine gesundheitliche Gefahr für den Patienten bestehen. Mit einer Odysseus-Verfügung können Betroffene genau festlegen, ab wann Sie eine Unterbringung in einer Psychiatrie wünschen und sich frühzeitig einweisen lassen. Das kann sinnvoll sein, weil es vor der gesundheitlichen Gefahr oft zu sozialen oder finanziellen Schäden kommt, die die Betroffenen im Nachhinein bereuen. Menschen mit bipolarer Störung geben in manischen Phasen zum Beispiel häufig viel Geld aus.

Je eher Betroffene eingewiesen werden, desto besser. Häufig verkürzt eine frühzeitige Einweisung auch insgesamt die Zeit in der Klinik.

Welche Risiken gibt es?

Bei einer Odysseus-Verfügung können Ärzte oder Angehörige Einfluss nehmen. So könnten Ärzte zum Beispiel auf eine medikamentöse Behandlung drängen, weil es die beste Therapie ist – der Betroffene könnte sie aber aufgrund starker Nebenwirkungen ablehnen wollen. Wichtig ist, dass die Verfügung am Ende zu 100% den Willen der Betroffenen widerspiegelt.

  • Wer eine Odysseus-Verfügung erstellen möchte, sollte sie deshalb mit einer neutralen Partei aufsetzen. Nicht unbedingt mit den behandelnden Ärzten.

  • Nach jeder Behandlung sollten sich Patient, Angehörige und Ärzte zusammensetzen und den Therapieerfolg bewerten. Bei Bedarf sollte die zukünftige Behandlung angepasst und die Verfügung entsprechend geändert werden.

  • Ein weiteres Risiko ist die Umsetzung der Verfügung. Zum Beispiel kann es sein, dass die Verfügung bei einem psychiatrischen Notfall nicht auffindbar ist – und dass der oder die Betroffene trotz Verfügung nicht nach ihren Wünschen behandelt wird. Dieses Risiko besteht aber grundsätzlich bei allen Patientenverfügungen.

Schlusswort

Psychiatrische Patientenverfügungen können ein wichtiges Tool zur Wahrung der Selbstbestimmung sein. Sie bieten Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen die Möglichkeit, ihren Behandlungsweg proaktiv zu gestalten und auch in Krisenzeiten ihre Würde und Entscheidungsfähigkeit zu sichern. Die Odysseus-Verfügung ermöglicht genau das – benötigt in Deutschland jedoch noch rechtliche und gesellschaftliche Anerkennung und klare Rahmenbedingungen. Bis dato bleibt der Umgang mit diesen Verfügungen eine Gratwanderung zwischen Patientenautonomie und Fürsorge – wobei der individuelle Wille und die ethischen Aspekte ärztlichen Handelns im Zentrum stehen sollten.

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