Die Organspende-Debatte: Widerspruchslösung versus Entscheidungslösung in Deutschland
Zusammenfassung
Die Debatte um die Widerspruchslösung bei der Organspende in Deutschland dreht sich darum, ob künftig jede:r automatisch als Spender:in gilt, sofern kein Widerspruch vorliegt. Befürworter:innen erhoffen sich höhere Spenderzahlen und eine Entlastung der Angehörigen, während Kritiker:innen ethische und rechtliche Bedenken anführen. Unabhängig von der gesetzlichen Regelung bleibt es wichtig, die persönliche Entscheidung zur Organspende klar zu dokumentieren.
Die Organspende kann Leben retten, dennoch warten tausende Menschen in Deutschland auf ein Spenderorgan. Seit Jahren wird über unterschiedliche gesetzliche Regelungen diskutiert, die die Spenderzahlen erhöhen könnten. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Sollte jeder Mensch automatisch als Organspender gelten, sofern er nicht widerspricht? Dieser Artikel beleuchtet die aktuelle Debatte und ihre Hintergründe.

Die aktuelle Situation der Organspende in Deutschland
In Deutschland gilt derzeit die sogenannte erweiterte Entscheidungslösung. Das bedeutet: Eine Organentnahme ist nur erlaubt, wenn die verstorbene Person dem zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt hat - etwa durch einen Organspendeausweis. Liegt keine dokumentierte Entscheidung vor, werden die Angehörigen befragt, die im Sinne der verstorbenen Person entscheiden sollen[5].
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Mit etwa 11,5 Spender:innen pro eine Million Einwohner:innen liegt Deutschland im europäischen Vergleich deutlich zurück. In Slowenien sind es 18,9, in Österreich 23,5, in Belgien 30,7 und in Spanien sogar 46,9 Spender:innen pro Million Einwohner:innen. Besonders auffällig: Länder mit Widerspruchslösung haben durchschnittlich deutlich höhere Spenderzahlen.
Die Konsequenzen dieser Situation sind gravierend: Mehr als 9.000 Menschen in Deutschland warten derzeit auf ein Spenderorgan. Jedes Jahr sterben über 1.000 Menschen, weil sie nicht rechtzeitig ein passendes Organ erhalten[5].
Was ist die Widerspruchslösung?
Bei der Widerspruchslösung gilt grundsätzlich jeder Mensch als potenzieller Organspender oder Organspenderin, sofern er oder sie zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen hat[10]. Im Gespräch ist häufig auch die “doppelte Widerspruchslösung”, bei der zusätzlich geprüft wird, ob den Angehörigen ein entgegenstehender Wille bekannt ist[9].
Das Ziel dieser Regelung ist klar: Mehr Menschen, die einer Organspende grundsätzlich positiv gegenüberstehen, aber ihre Entscheidung nicht dokumentiert haben, könnten als potenzielle Spender:innen erfasst werden. Dies könnte die Zahl der verfügbaren Organe erhöhen und damit mehr Menschen auf der Warteliste helfen[10].
Die politische Debatte zur Widerspruchslösung
Die Diskussion über die Widerspruchslösung beschäftigt die deutsche Politik seit Jahren. Im Januar 2020 lehnte der Bundestag nach einer emotionalen Debatte einen Gesetzentwurf zur Einführung der doppelten Widerspruchslösung ab, der unter anderem vom damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und dem SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach unterstützt wurde[9][5].
Stattdessen entschied sich der Bundestag für den Ausbau der Entscheidungslösung. Alle Bürger:innen ab 16 Jahren sollten von ihren Krankenkassen regelmäßig angeschrieben, informiert und gebeten werden, eine Entscheidung für oder gegen eine Organspende zu treffen[5].
Doch die Debatte ist nicht abgeschlossen: Im Juli 2024 beschloss der Bundesrat, einen Gesetzentwurf zur Einführung der Widerspruchsregelung in den Bundestag einzubringen[10]. Dieser Vorstoß wurde von mehreren Bundesländern unterstützt, darunter Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Berlin, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Saarland und Schleswig-Holstein[10].
Am 5. Dezember 2024 wurde im Bundestag erneut in einer kontroversen und teilweise emotionalen Aussprache über die mögliche Einführung der Widerspruchsregelung beraten[11].
Argumente für die Widerspruchslösung
Die Befürworter:innen der Widerspruchslösung führen verschiedene Argumente an:
Höhere Spenderzahlen: Die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern zeigen, dass die Widerspruchslösung zu deutlich höheren Spenderzahlen führen kann.
Entlastung der Angehörigen: In der aktuellen Situation müssen Angehörige oft unter enormem emotionalen Druck entscheiden, ob Organe entnommen werden dürfen, wenn keine dokumentierte Entscheidung vorliegt. Die Widerspruchslösung könnte sie in dieser schwierigen Situation entlasten[3].
Mehr Auseinandersetzung mit dem Thema: Die Widerspruchslösung könnte dazu führen, dass sich mehr Menschen aktiv mit dem Thema Organspende beschäftigen und eine bewusste Entscheidung treffen[11].
Diskrepanz zwischen Einstellung und Dokumentation: Umfragen zeigen, dass etwa 40 Prozent der Deutschen einen Organspendeausweis ausgefüllt haben. Jedoch wird nur bei 15 bis 20 Prozent der potenziellen Organspender:innen tatsächlich ein solcher Ausweis gefunden[3].
Argumente gegen die Widerspruchslösung
Kritiker:innen der Widerspruchslösung bringen folgende Bedenken vor:
Recht auf körperliche Unversehrtheit: Das in der Verfassung verankerte Recht auf körperliche Unversehrtheit könnte durch die Widerspruchslösung berührt werden[9].
Ethische Bedenken: Die Organspende sollte aus eigenem Antrieb und Nächstenliebe geschehen, nicht durch eine automatische Registrierung.
Verfassungsrechtliche Bedenken: Es bestehen Zweifel, ob der verfassungsrechtliche Rahmen in Deutschland für die Aufnahme einer Widerspruchslösung geeignet ist[8].
Umkehrung des Zustimmungsprinzips: Die Widerspruchslösung kehrt das Prinzip um, dass für medizinische Eingriffe grundsätzlich eine Zustimmung erforderlich ist[9].
Das Organspenderegister und praktische Herausforderungen
Im März 2024 wurde in Deutschland ein Register für Erklärungen zur Organ- und Gewebespende in Betrieb genommen[11]. Dieses Register soll es ermöglichen, den Willen zur Organspende zentral zu dokumentieren und im Ernstfall schnell abrufen zu können.
Allerdings gibt es bei der Registrierung praktische Probleme: So wird beispielsweise ein Personalausweis mit Online-Funktion benötigt, was besonders für ältere Menschen eine Hürde darstellen kann[3].
Alternativen zur Registrierung sind:
- Der klassische Organspendeausweis im Papierformat
- Die Dokumentation in der Patientenverfügung
- Die Nutzung von Apps der Krankenkassen[3]
Praktische Tipps für Ihre Entscheidung
Unabhängig vom Ausgang der aktuellen Debatte können Sie schon heute Ihre Entscheidung zur Organspende dokumentieren:
Informieren Sie sich gründlich: Nutzen Sie vertrauenswürdige Quellen wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) oder die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO).
Dokumentieren Sie Ihre Entscheidung: Füllen Sie einen Organspendeausweis aus und tragen Sie ihn bei sich. Sie können auch eine Erklärung in Ihrer Patientenverfügung festhalten.
Besprechen Sie Ihre Entscheidung mit Ihren Angehörigen: So können diese in Ihrem Sinne handeln, falls der Ausweis nicht gefunden wird.
Nutzen Sie das Organspenderegister: Wenn Sie über einen Personalausweis mit Online-Funktion verfügen, können Sie Ihre Entscheidung im neu eingerichteten Register dokumentieren.
Alternative Ansätze zur Steigerung der Spenderzahlen
Neben der Widerspruchslösung gibt es auch andere Ansätze, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen. So zeigt eine Studie, dass mit Hilfe der sozialpsychologischen “Disrupt-Then-Reframe-Technik” die Entscheidungslösung beibehalten und dennoch deutlich höhere Spenderzahlen erreicht werden könnten[4].
Auch eine verbesserte Aufklärung und Information der Bevölkerung sowie eine Optimierung der Abläufe in Krankenhäusern könnten zu mehr Organspenden führen.
Fazit: Eine gesellschaftliche Entscheidung
Die Debatte um die Widerspruchslösung bei der Organspende berührt grundlegende Fragen von Selbstbestimmung, Solidarität und Lebensrettung. Sie ist nicht nur eine politische, sondern auch eine gesellschaftliche Diskussion.
Unabhängig davon, welche Regelung in Zukunft in Deutschland gelten wird, bleibt eines wichtig: Ihre persönliche Entscheidung zur Organspende zu treffen und zu dokumentieren. Damit schaffen Sie Klarheit für sich selbst, Ihre Angehörigen und die medizinischen Fachkräfte - und können potenziell Leben retten.