BGH-Urteil: Kein Schmerzensgeld bei lebenserhaltenden Maßnahmen ohne Patientenverfügung
Zusammenfassung
Das BGH-Urteil vom 2. April 2019 stellt klar, dass Ärzt:innen nicht haftbar gemacht werden können, wenn sie ohne Patientenverfügung lebenserhaltende Maßnahmen durchführen, selbst wenn dadurch Leiden verlängert wird. Es unterstreicht die Bedeutung einer Patientenverfügung, um den eigenen Willen bezüglich medizinischer Maßnahmen rechtssicher festzulegen. Das menschliche Leben bleibt laut Gericht stets erhaltungswürdig und darf niemals als Schaden bewertet werden.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem grundlegenden Urteil vom 2. April 2019 entschieden, dass Ärzt:innen nicht finanziell haften, wenn sie Patientenpersonen durch lebenserhaltende Maßnahmen länger am Leben erhalten - selbst wenn dadurch Leiden verlängert wird. Das Gericht betonte: Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und stets erhaltungswürdig. Niemand darf über den Wert eines fremden Lebens urteilen.

Der Fall Heinrich S. - Ein jahrelanges Rechtsverfahren
Der Fall, der zu diesem wegweisenden Urteil führte, hat eine lange Vorgeschichte. Heinrich S., geboren 1929, litt an fortschreitender Demenz und wurde von 2006 bis zu seinem Tod im Oktober 2011 mittels einer PEG-Magensonde künstlich ernährt. Er konnte sich weder bewegen noch mitteilen, seine Angelegenheiten wurden durch einen Rechtsanwalt als Betreuer geregelt. In seinen letzten Lebensjahren litt Heinrich S. an schweren Begleiterkrankungen, darunter Lungen- und Gallenblasenentzündungen sowie Fieber und Atembeschwerden[1][8].
Sein Sohn klagte nach dem Tod des Vaters gegen den behandelnden Hausarzt. Er forderte 100.000 Euro Schmerzensgeld und mehr als 50.000 Euro Schadensersatz für Behandlungs- und Pflegekosten. Die Begründung: Die künstliche Ernährung habe seit spätestens Anfang 2010 “nur noch zu einer sinnlosen Verlängerung des krankheitsbedingten Leidens” geführt. Der Arzt hätte nach Ansicht des Sohnes das Sterben seines Vaters zulassen und die lebenserhaltenden Maßnahmen beenden müssen[7].
Der Weg durch die Instanzen
Das Gerichtsverfahren durchlief mehrere Instanzen mit unterschiedlichen Urteilen:
Das Landgericht München I wies die Klage zunächst ab. Die Richter sahen nicht als nachgewiesen an, dass der Sohn und der Betreuer sich gegen eine Lebenserhaltung ausgesprochen hätten, wenn der Arzt sie gefragt hätte[5][10].
Das Oberlandesgericht München hingegen sprach dem Kläger in zweiter Instanz ein Schmerzensgeld in Höhe von 40.000 Euro zu. Die Begründung: Der beklagte Hausarzt habe seine Aufklärungspflicht verletzt. Er wäre angehalten gewesen, mit dem Betreuer die Fortsetzung oder Beendigung der Sondenernährung zu erörtern[1][6].
Das BGH-Urteil und seine Begründung
Der Bundesgerichtshof hob schließlich am 2. April 2019 das Urteil des Oberlandesgerichts auf und wies die Klage endgültig ab (Az. VI ZR 13/18). In der Begründung betonte der BGH mehrere grundsätzliche Aspekte:
“Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig. Das Urteil über seinen Wert steht keinem Dritten zu. Deshalb verbietet es sich, das Leben - auch ein leidenbehaftetes Weiterleben - als Schaden anzusehen (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG)”.
Die Richter:innen machten deutlich, dass nach unserer Verfassungsordnung jeder staatlichen Gewalt - einschließlich der Rechtsprechung - verboten ist, ein Leben als Schaden zu bewerten. Dies gelte selbst dann, wenn ein Patient sein eigenes Leben als lebensunwert betrachte und lebenserhaltende Maßnahmen gegen dessen Willen zu unterbleiben hätten[10].
Entscheidend für den Ausgang des Rechtsstreits war auch, dass Heinrich S. keine Patientenverfügung erstellt hatte. Sein Wille bezüglich lebenserhaltender Maßnahmen ließ sich auch anderweitig nicht feststellen. Es war somit nicht klar, ob er die Fortsetzung der künstlichen Ernährung gewünscht hätte oder nicht[1][7].
Die Bedeutung einer Patientenverfügung
Dieser Fall zeigt eindringlich, wie wichtig eine Patientenverfügung sein kann. Die Richter:innen des BGH mussten nicht über die Fallgestaltung entscheiden, dass lebenserhaltende Maßnahmen gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten fortgeführt wurden[3].
In einer Patientenverfügung können Sie vorab festlegen, welche medizinischen Maßnahmen Sie in bestimmten Situationen wünschen oder ablehnen. Das gibt Ihnen die Möglichkeit, selbst dann über Ihre Behandlung zu entscheiden, wenn Sie sich nicht mehr äußern können. Laut Statistiken hat jedoch nur etwa die Hälfte der Menschen in Deutschland eine solche Verfügung erstellt.
Die rechtlichen Grundlagen für Patientenverfügungen sind in § 1827 BGB geregelt. Dort ist festgelegt, dass eine Patientenverfügung schriftlich erstellt werden muss und der Verfasser zum Zeitpunkt der Errichtung einwilligungsfähig sein muss[4].
Rechtssicherheit durch die BGH-Rechtsprechung
Das Urteil des BGH sorgt für mehr Rechtssicherheit bei Ärzt:innen und Pflegekräften. Es schützt sie vor Schadensersatzansprüchen, wenn sie ohne entgegenstehende Patientenverfügung lebenserhaltende Maßnahmen durchführen. Gleichzeitig stärkt es aber auch die Bedeutung von Patientenverfügungen für selbstbestimmtes Sterben[1][3].
Der BGH hat in weiteren Entscheidungen auch die Anforderungen an die Bestimmtheit von Patientenverfügungen konkretisiert. So reicht die allgemeine Formulierung “keine lebensverlängernden Maßnahmen” für sich genommen nicht aus. Durch den Bezug auf spezifische Krankheiten oder Behandlungssituationen kann jedoch eine ausreichende Konkretisierung erreicht werden[9].
Was Sie für Ihre eigene Patientenverfügung beachten sollten
Angesichts dieses Urteils ergeben sich mehrere praktische Empfehlungen:
Erstellen Sie eine Patientenverfügung - Sie sichern damit Ihr Selbstbestimmungsrecht auch für Situationen, in denen Sie sich nicht mehr äußern können.
Formulieren Sie möglichst konkret - Beschreiben Sie genau, in welchen medizinischen Situationen welche Maßnahmen ergriffen oder unterlassen werden sollen.
Halten Sie die Schriftform ein - Eine Patientenverfügung ist nur wirksam, wenn sie schriftlich vorliegt und von Ihnen unterschrieben wurde.
Lassen Sie sich beraten - Medizinische und rechtliche Fachpersonen können Ihnen helfen, Ihre Wünsche rechtssicher zu formulieren.
Sprechen Sie mit Angehörigen - Informieren Sie nahestehende Personen über Ihre Verfügung und deren Aufbewahrungsort.
Prüfen Sie regelmäßig - Überprüfen Sie Ihre Patientenverfügung in regelmäßigen Abständen und passen Sie sie bei Bedarf an[3][9].
Patientenverfügung und medizinische Indikation
Es ist wichtig zu verstehen, dass Ärzt:innen nicht zu Maßnahmen verpflichtet sind, die medizinisch nicht sinnvoll sind. Selbst wenn keine Patientenverfügung vorliegt, besteht keine Pflicht, lebensverlängernde Maßnahmen durchzuführen, wenn diese aus medizinischer Sicht nicht mehr angezeigt sind[4].
Laut BGH sollen Arzt und Betreuer:in gemeinsam prüfen, ob eine wirksame Patientenverfügung vorliegt und ob sie auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft. Können sie kein Einvernehmen erzielen, ist eine Genehmigung des Betreuungsgerichts erforderlich[4].
Was das Urteil für die Praxis bedeutet
Das BGH-Urteil hat weitreichende Folgen für die medizinische Praxis. Ärzt:innen erhalten Rechtssicherheit, wenn sie lebenserhaltende Maßnahmen durchführen - solange keine Patientenverfügung dagegen spricht. Gleichzeitig wird die Bedeutung der Patientenverfügung als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts gestärkt[2][5].
Für Patientenpersonen und ihre Angehörigen bedeutet dies: Wer in bestimmten Situationen keine lebensverlängernden Maßnahmen wünscht, sollte dies rechtzeitig in einer Patientenverfügung festhalten. Ohne eine solche Verfügung werden Ärzt:innen im Zweifel lebenserhaltende Maßnahmen durchführen - ohne Risiko, dafür später haftbar gemacht zu werden[3][7].
BGH bekräftigt: Leben kann niemals ein Schaden sein
Mit seinem Urteil hat der BGH ein klares Signal gesetzt: Das menschliche Leben genießt höchsten rechtlichen Schutz. Selbst wenn es von Leiden geprägt ist, kann es aus juristischer Sicht niemals als Schaden bewertet werden. Dies entspricht den Werten unserer Verfassung, die die Würde und das Leben jedes Menschen schützt[5][8].
Gleichzeitig erkennt der BGH das Recht jedes Menschen an, selbst über lebensverlängernde Maßnahmen zu entscheiden - sofern dieser Wille in einer rechtsgültigen Patientenverfügung festgehalten ist. Die Verbindlichkeit der Patientenverfügung wird durch dieses Urteil nicht infrage gestellt, sondern in ihrer Bedeutung noch unterstrichen[2][9].
Der Fall Heinrich S. zeigt eindrücklich, wie wichtig Vorsorge ist. Nur mit einer Patientenverfügung können Sie sicherstellen, dass Ihr Wille auch dann Beachtung findet, wenn Sie sich selbst nicht mehr äußern können[7][10].