BGH-Urteil: Selbstbestimmungsrecht für sterbewillige Patient:innen
Zusammenfassung
Das BGH-Urteil von Juli 2019 stärkt das Selbstbestimmungsrecht von Patient:innen und erlaubt Ärzt:innen, bei einem freiverantwortlich geplanten Suizid auf lebensrettende Maßnahmen zu verzichten, ohne strafrechtliche Konsequenzen zu fürchten. Es bietet mehr Rechtssicherheit für Sterbewillige und medizinisches Personal, wirft jedoch ethische Fragen auf, die eine umfassende Beratung und Alternativen wie palliativmedizinische Betreuung erfordern. Patientenverfügungen bleiben ein wichtiges Mittel, um den eigenen Willen am Lebensende klar zu dokumentieren.
Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Juli 2019 hat das Selbstbestimmungsrecht von Personen am Lebensende erheblich gestärkt. Der BGH entschied, dass Ärzt:innen bei einem freiverantwortlich geplanten Suizid nicht zur Rettung verpflichtet sind. Diese grundlegende Entscheidung bietet sowohl für sterbewillige Patient:innen als auch für medizinisches Personal mehr Rechtssicherheit. Die folgende Darstellung erläutert die Hintergründe und Bedeutung dieses wegweisenden Urteils.

Das Selbstbestimmungsrecht beim Sterben
Jeder Mensch hat ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das Bundesverfassungsgericht hat dies in seinem Urteil vom 26. Februar 2020 bekräftigt und festgestellt, dass dieses Recht die Freiheit einschließt, sich das Leben zu nehmen[5]. Es ist Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus dem Grundgesetz.
Diese Freiheit umfasst auch das Recht, auf die freiwillige Hilfe Dritter zurückzugreifen. Das Bundesverfassungsgericht erklärte deshalb das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für nichtig[2][5]. Für viele Menschen ist die Unterstützung durch Dritte der einzige Weg, eine Selbsttötung vorzunehmen.
Die zwei Fälle vor dem BGH
Der Bundesgerichtshof hatte über zwei Fälle zu entscheiden, in denen Ärzte wegen Tötungsdelikten angeklagt waren, nachdem sie schwer kranke Patient:innen bei der Selbsttötung begleitet hatten[11]:
Fall 1: Hamburg
In Hamburg nahmen sich zwei Frauen im Alter von 85 und 81 Jahren gemeinsam das Leben. Ein Arzt empfahl ihnen geeignete Medikamente, die sie sich selbst beschafften. Auf ausdrücklichen Wunsch der Frauen beobachtete er die Einnahme und protokollierte den Sterbevorgang, ohne lebensrettende Maßnahmen zu ergreifen[3][11]. Beide Frauen litten an mehreren Erkrankungen, die zwar nicht lebensbedrohlich waren, aber ihre Lebensqualität und Selbstständigkeit erheblich einschränkten[11].
Fall 2: Berlin
In Berlin nahm sich eine 44-jährige Frau das Leben. Sie hatte ihren langjährigen Hausarzt um Hilfe beim Sterben gebeten. Dieser beschaffte das Medikament, beobachtete die Einnahme und besuchte die bewusstlose Frau, wie von ihr gewünscht, über den Sterbezeitraum von drei Tagen mehrmals. Die Frau litt seit ihrem 16. Lebensjahr an einer nicht lebensbedrohlichen Erkrankung, die starke körperliche Schmerzen verursachte.
Das Urteil und seine Begründung
Der BGH sprach am 3. Juli 2019 beide Ärzte frei (Az. 5 StR 132/18)[11]. Der vorsitzende Richter des fünften BGH-Strafsenats, Norbert Mutzbauer, begründete das Urteil mit dem Selbstbestimmungsrecht der Patient:innen:
“Bei einem freiverantwortlichen Suizid kann der Arzt, der die Umstände kennt, nicht mit strafrechtlichen Konsequenzen verpflichtet werden, gegen den Willen des Suizidenten zu handeln.”[3]
Der BGH stellte fest, dass weder das ärztliche Standesrecht noch die Hilfspflicht bei Unglücksfällen verletzt worden sei. Da sich die Suizide als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der sterbewilligen Frauen darstellten, waren Rettungsmaßnahmen entgegen ihrem Willen nicht geboten.
Der Richter zog eine Parallele zur Patientenverfügung. Auch dort könne in wachem Zustand bestimmt werden, was Ärzt:innen später im Fall von Bewusstlosigkeit tun oder unterlassen sollen[3].
Bedeutung des Urteils für Patient:innen und Ärzt:innen
Das Urteil stellt eine grundlegende Änderung der bisherigen Rechtssprechung dar. Es korrigierte ein BGH-Urteil aus dem Jahr 1984, nach dem Ärzt:innen auch dann den bewusstlosen Patienten retten mussten, wenn sie wussten, dass dieser selbstverantwortlich aus dem Leben scheiden wollte[3].
Diese frühere Rechtslage führte zu der unwürdigen Situation, dass Ärzt:innen, die kein strafrechtliches Risiko eingehen wollten, sich nach Übergabe des Medikaments entfernen mussten. Die Patient:innen mussten folglich alleine sterben[3].
Mit dem neuen Urteil dürfen Sterbebegleiter:innen beim Sterbenden bleiben, weil dessen Sterbewunsch auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit beachtlich bleibt. Dies wurde vom Verein Sterbehilfe Deutschland als “epochale Abkehr” bisheriger Urteile bezeichnet.
Rechtliche Einordnung und Abgrenzung zur aktiven Sterbehilfe
Bei der rechtlichen Bewertung von Sterbehilfe ist eine klare Unterscheidung wichtig:
Aktive Sterbehilfe (gezielte Tötung auf Wunsch eines Sterbenskranken) ist in Deutschland weiterhin strafbar[5].
Passive Sterbehilfe bedeutet, dass bestimmte lebensverlängernde Maßnahmen oder Behandlungen auf Wunsch der erkrankten Person unterlassen oder abgebrochen werden. Diese Form ist straflos[5].
Indirekte Sterbehilfe umfasst Behandlungen, die kurzfristig für eine Verbesserung des Zustandes sorgen, langfristig jedoch eine Verkürzung des Lebens bedeuten können. Auch diese Form ist straflos[5].
Beihilfe zur Selbsttötung (Assistenz beim Suizid) ist grundsätzlich straflos. Ärzt:innen dürfen Patient:innen durch Hilfestellungen ermöglichen, sich selbst zu töten, sind dazu aber nicht verpflichtet. Sie können nach ihrem Gewissen entscheiden[5].
Bedeutung für Patientenverfügungen
Das BGH-Urteil stärkt indirekt auch die Bedeutung von Patientenverfügungen. Es betont, dass der Wille des Patienten oder der Patientin auch dann respektiert werden muss, wenn die Person nicht mehr bei Bewusstsein ist[3].
Eine Patientenverfügung nach § 1827 BGB ermöglicht es Ihnen, im Voraus festzulegen, ob und welche medizinischen Maßnahmen in bestimmten Situationen durchgeführt oder unterlassen werden sollen[10]. Die Parallele zum BGH-Urteil ist, dass in beiden Fällen der vorher geäußerte Wille auch später Gültigkeit behält.
In den verhandelten Fällen hatten die betroffenen Personen jeweils kurz vor dem Suizid eine Patientenverfügung verfasst, die lebenserhaltende Maßnahmen untersagte[11]. Dies unterstützte die Einschätzung der Gerichte, dass ein freiverantwortlicher Entschluss vorlag.
Kritische Stimmen und ethische Bedenken
Trotz der grundsätzlichen Begrüßung des Urteils durch viele Expert:innen gibt es auch kritische Stimmen. Eine zentrale Frage lautet, wie autonom der Sterbewunsch tatsächlich sein kann.
Sterbewünsche können auch durch gesellschaftliche Faktoren und das persönliche Umfeld beeinflusst werden. Manche ältere oder pflegebedürftige Menschen äußern Sterbewünsche, weil sie andere nicht belasten möchten. Hier besteht die Gefahr, dass soziale oder wirtschaftliche Zwänge die Entscheidungsfreiheit einschränken.
Medizinethiker:innen fordern daher, dass einem assistierten Suizid immer eine umfassende Beratung vorausgehen sollte. Diese sollte auch Alternativen wie palliativmedizinische Betreuung oder psychosoziale Unterstützung aufzeigen.
Praktische Folgen für Patient:innen und Angehörige
Wenn Sie oder Ihre Angehörigen mit Gedanken an einen assistierten Suizid umgehen, sollten Sie folgende Aspekte beachten:
Ärztliche Beratung: Suchen Sie das Gespräch mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin. Medizinisches Fachpersonal darf seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts beim Suizid helfen, ist dazu aber nicht verpflichtet[5].
Alternativen prüfen: Lassen Sie sich über palliativmedizinische Möglichkeiten beraten, die Leiden lindern können.
Patientenverfügung erstellen: Eine detaillierte Patientenverfügung kann Ihren Willen dokumentieren und sicherstellen, dass keine ungewollten lebensverlängernden Maßnahmen ergriffen werden[10].
Familiäre Kommunikation: Sprechen Sie mit Ihren Angehörigen über Ihre Wünsche, um spätere Konflikte zu vermeiden.
Gesetzliche Entwicklungen seit dem Urteil
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 wurde die gesetzliche Neuregelung der Suizidassistenz intensiv diskutiert. Mehrere Gesetzentwürfe wurden in den Bundestag eingebracht, um die Bedingungen für einen assistierten Suizid zu regeln.
Diese Entwürfe unterscheiden sich vor allem in der Frage, wie umfangreich die Beratung vor einem assistierten Suizid sein soll und welche Wartefristen eingehalten werden müssen. Bis zur Veröffentlichung dieses Artikels im März 2025 ist jedoch noch keine endgültige gesetzliche Neuregelung in Kraft getreten.
Fazit
Das BGH-Urteil vom Juli 2019 stellt einen bedeutenden Fortschritt für das Selbstbestimmungsrecht am Lebensende dar. Es gibt sowohl sterbewilligen Patient:innen als auch begleitenden Ärzt:innen mehr Rechtssicherheit. Die Entscheidung erlaubt es Sterbebegleiter:innen, bis zum Ende bei sterbewilligen Personen zu bleiben, ohne strafrechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen[3].
Gleichzeitig wirft die Entscheidung wichtige ethische Fragen auf, die jeder Mensch für sich selbst beantworten muss. Es gilt, die richtige Balance zwischen persönlicher Autonomie und dem Schutz vulnerabler Personen zu finden.
Für Ihre persönliche Vorsorge bleibt die Patientenverfügung ein zentrales Instrument, um Ihre Wünsche für medizinische Behandlungen am Lebensende festzuhalten und durchzusetzen.